10 Februar 2006

Muehle predigt

1 Auch ich, liebe Brüder, als ich zu euch kam, kam ich nicht mit hohen Worten und hoher Weisheit, euch das Geheimnis Gottes zu verkündigen. 2 Denn ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten. 3 Und ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und mit großem Zittern; 4 und mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft, 5 damit euer Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft.
6 Wovon wir aber reden, das ist dennoch Weisheit bei den Vollkommenen; nicht eine Weisheit dieser Welt, auch nicht der Herrscher dieser Welt, die vergehen.7 Sondern wir reden von der Weisheit Gottes, die im Geheimnis verborgen ist, die Gott vorherbestimmt hat vor aller Zeit zu unserer Herrlichkeit, 8 die keiner von den Herrschern dieser Welt erkannt hat; denn wenn sie die erkannt hätten, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt. 9 Sondern es ist gekommen, wie geschrieben steht (Jesaja 64,3): »Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben.« 10 Uns aber hat es Gott offenbart durch seinen Geist; denn der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit.
1 Kor 2, 1-10

Liebe Schwestern und Brüder,

was wirklich weise ist, bleibt unseren Augen verborgen.
Was wir aber wissen, ist dies:
Gottes Weisheit ist von einer unheimlichen Ausstrahlungskraft,
dass es sich lohnt, dafür zu sterben.

Der Beweis ist Jesus.
Zum Sterben schön war ihm das Leben, das Gott ihm geschenkt hat.
Zum Sterben schön war ihm die Gemeinschaft mit seinen Jüngern,
zum Sterben schön die Hochzeit von Kana – er hat mitgefeiert, leidenschaftlich,
gegessen, getrunken. Aber es war ihm klar: er war nicht nur wegen dieser Hochzeit da,
sondern wegen etwas, das wunderbarer
und heimeliger war als alles familiäre und gesellige Feiern.
Am Ende der Geschichte war es das Wunder, da keiner von uns begreift.

Das Leben ist schön.
Sonst hätten wir es schon längst aufgegeben, selbst zu leben.
Es muss etwas dran sein, dass uns immer noch Sinn gibt.
Das Leben ist von Gott verklärt, ist uns aufgetragen,
aufgegeben, dass es sich auflöse. Und wir bleiben
in der Erwartung, dass das oftmals unlösbare Rätsel unseres Daseins sich auflöst,
dass es sich klärt, und deutlich wird,
sich uns erklärt und verdeutlicht,
dass sich der Nebel lichtet und wir dessen gewahr werden:
Es hat einen Sinn, eine Schönheit, eine tiefe Verankerung,
ist nicht nur Leiden, sondern auch Schauen,
ist nicht nur Klagen, sondern auch Singen,
ist nicht nur Wasser, sondern Wein.

Ich habe diese Woche begonnen, ein Buch zu lesen, das mir mein Sohn aufgetragen hat.
Schon allein dieser Umstand ist reizvoll für mich und trägt in sich einen eigenartigen Schimmer. Dass er beim Abschied nach Weihnachten sagte: Papa, das haben wir in der Schule gelesen. Ich möchte, dass du es auch liest. Ich lass es dir hier.
Der Titel hat mir gesagt und erklärt, warum.
Es lag eine ungeheure Wertschätzung darin.
Mein Sohn meinte, er müsse dieses Buch mit mir teilen.
Und wollte, dass ich mich auf ein Gespräch mit ihm darüber vorbereite.
Weil es nicht nur sein und seines Lehrers, nicht nur seiner Schule
und seiner Klasse Buch geworden ist, sondern weil es uns miteinander verbindet,
und genau das im Titel trägt, was uns eint und gleichzeitig trennt.
Das Buch, das mir mein fünfzehn- bald sechzehnjähriger Bub zum Lesen aufgetragen hat,
heißt „Jugend ohne Gott“ von Ödon von Horvat.

Ich weiß nicht, wer von Ihnen dieses Buch kennt.
Zu meiner Schulzeit gehörte es nicht zur Pflichtlektüre.
Ich hatte zwar davon gehört, zu lesen hab ich aber jetzt erst angefangen:
„Jugend ohne Gott.“ Ich hab natürlich erst einmal gerätselt, was das für ein Schriftsteller ist.
Und warum er einen solchen religiösen Titel wählt. Ich hab dann schnell, bei den ersten Zeilen schon, gemerkt, es geht um jene Generation, die aus Zwang gottlos aufgewachsen ist: Die Kinder der 1920er und 1930er. Deshalb „Jugend ohne Gott“, weil es damals verpönt gewesen ist, von Gott zu reden und sich als Christ zu engagieren. Der Autor, oder sagen wir besser seine Hauptfigur, definiert sich selbst auch nicht als Christ. Er sagt, er habe Gott verlassen. „Es war im Krieg, da habe ich Gott verlassen . Es war zuviel verlangt von einem Kerl in den Flegeljahren, dass er begreift, dass Gott einen Weltkrieg zulässt.“ Es ist also eine solche Figur, die an jenem ersten schrecklichen Horrorkrieg teilgenommen hat, in dem Viele zu Atheisten geworden sind. Über den Bomben, den unsäglichen Stellungskriegen, der Sinnlosigkeit, die schon im Kriegsbeginn begründet gelegen ist. Über den zerstörten Hoffnungen eines wärmenden, bergenden Nationalgefühls, das so viele in die Wirren des Schlachtfeldes führte. Über der schrecklichen Einsicht derer, die ein wenig über den Horizont der Propaganda hinaus schauten, und feststellten, dass weder Kanzler noch Kaiser vertrauenswürdig regierten, sondern allein das aufkommende internationale Kapital. Letztlich auch über der unsäglichen, den Krieg mit vorbereitenden, Kanzelrede vieler Protestanten, die das Opfer für Volk und Vaterland über den Frieden Jesu stellten, und dies mit einer derartig verblendeten Klarheit predigten, dass es scheinbar keine plausible Alternative dazu gab.

Der Dichter, oder besser seine Hauptfigur jedenfalls hatte für sich beschlossen, sich von dem Glauben seiner tief religiösen Eltern abzuwenden und Gott zu verlassen. Und nun tut sich ein tiefer Graben auf, zwischen denen, die als Jugend ohne Gott aufwachsen, die er betreuen und unterrichten will, und ihm, der selbst ganz bewusst beschlossen hat: Gott – ohne mich. Die Gottlosigkeit hat sich vervielfältigt, geradezu potenziert. Und in ihrer unmoralischen Schlagkraft fällt sie ganz auf ihn zurück. Sein letztes Quäntchen Humanität verliert sich, glitt ihm aus den Fingern. Dreht sich wider ihn, als inhumane Fratze derer, die keinerlei Moral, keine festen Werte mehr haben. Verführt und verderbt von jenen, denen der Krieg der Vater aller Dinge gewesen ist. Teuflisch!

Manche von Ihnen kennen dieses Buch vielleicht besser als ich, und können auch eine genauere Deutung anbieten. Aber lassen Sie mich ein wenig darüber nachdenken, gerade weil ich es unter den geschilderten Umständen eben neu entdeckt habe. Ich zeige damit vielleicht auch eine Bildungslücke – aus heutiger Sicht ist es schrecklicher Mangel, dass ich es nicht früher gelesen habe. Aber die Freude des Entdeckers fasziniert mich, und kann vielleicht auch Sie motivieren, das Stück einmal neu hervorzuholen. Was ich bisher gefunden hat, das gehört so gut zu dem, was meine Predigt sagen will, dass ich vielleicht anhand dieser Lektüre ein wenig besser darstellen kann, was heute für uns Gottes Wort ist:
Geheimnisvoll, unheimlich, zum Sterben schön.

Der Autor, oder besser gesagt seine Hauptfigur, ist Lehrer von Beruf. Genauer von Berufung. Denn ein innerer Ruf hat ihn dazu geführt, diesen Beruf zu ergreifen. „Lieber als Arzt wollte ich Lehrer werden. Lieber als Kranke heilen, wollte ich Gesunden etwas mitgeben, einen winzigen Stein für den Bau einer schöneren Zukunft.“ Was ist das doch für eine wunderschöne Beschreibung. Wenn ich so schwärme, möchte ich nichts gegen den Beruf des Arztes sagen. Solche Sätze sind ja auch niemals absolut, sondern sehr subjektiv empfunden. Sollen nicht andere aburteilen, sondern die eigene, innere Motivation ans Licht bringen. Und gerade diesen Satz müssen wir in seiner Subjektivität einfach einmal stehen lassen. Sicher berührt das, was er als Grund anführt, den Lehrerberuf zu ergreifen, auch Momente eines Arztes, eines medizinischen Lebensbegleiters. Und vieles, was unsere Lehrer heute in den Schulen erleben, erfordert Kenntnisse in der Heilkunst. Für ihn aber, im Moment seiner beruflichen Wahl, stand da ein Gegensatz, eine Alternative: Er wählte den Lehrerberuf, weil er weniger mit kranken Menschen an ihren biologischen und psychischen Mängeln arbeiten wollte, sondern mit grundsätzlich Gesunden zusammen sein und ihnen ein wenig im Leben weiter helfen.

Und wie bescheiden er doch seine Worte wählt. Nicht dieses gewaltige Bildungsgehabe, nach dem ich der weise Gelehrte bin, der seinen Schülern, als wären sie leere Gefäße, die Honigmilch der Bildung einflößt. Nein, ein wenig, einen winzigen Baustein, das war alles, was er erhoffte, den Kindern ins Leben mitzugeben. Und dann erlebt er, dass ihm dies Alles genommen wird. Ausgerechnet in dieser biblischen, geradezu jesuanischen Bescheidenheit geschieht ihm das, was auch dem Apostel geschehen ist: Es gleitet ihm aus den Fingern. Ja, er selbst hat sich nicht mehr im Griff.

Ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und mit großem Zittern; 4 und mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes.

Es beginnt damit, dass er ganz leise versucht anzumerken,
Neger seien doch schließlich auch Menschen.
Einen Satz, der für uns heute in keiner Weise mehr eine Provokation darstellt.
Damals kostete es ihm beinahe den Beruf.
Beinahe – denn den Beruf behielt er,
was er aber verloren hat, mehr und mehr,
das war sein berufliches Ethos.
Seine Dynamik, seine ursprüngliche Kraft und Motivation,
ist ihm vollkommen verloren gegangen.
Hohe Worte und hohe Weisheit,
das war in jener Zeit der Konsens der National gesinnten,
über die wir heute nur ein bitteres Lächeln verlieren.
Heute sind die totalitären Kräfte anders gelagert,
jede Generation hat ihre eigenen Schwächen
und auf ihre Weise den Widerstand auszumachen.
Der unchristliche Common Sense steht auch heute
oft unter dem Vorzeichen einer christlichen Politik
oder unter dem Deckmantel der Freiheit.
Wer dort opponiert, der erlebt,
wie ihm die Dinge zerredet, wie gegen ihn intrigiert
und seine Autorität untergraben wird.
Ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen
als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten.

Ödon von Horwath’s „Jugend ohne Gott“ ist ein Versuch,
dieses Zerbrechen nachzuzeichnen
am Beispiel eines Menschen in einer Epoche unserer Geschichte,
da der Glaube unter einem totalitären System zu ersticken drohte.
Und am Ende geschieht,
Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat
und in keines Menschen Herz gekommen ist,
ein Mensch, dem das gesamte Lebenskonzept entglitt,
findet zu Gott zurück.
Nicht weil er sich bekehrt hätte,
nicht weil er ein Übergabegebet gesprochen,
oder die Vier Geistlichen Gesetze gelesen hätte und angewendet,
nein, so einfach ist das nicht.
Es bleibt verwunden und hinein gebunden
in zaghafte Fragen und Selbstzweifel.
Es bleibt fraglich und zerbrechlich,
eben so, wie sein Leben fraglich und zerbrechlich geblieben ist.
Und zwar bis zum Schluss.

Die Wende, die sich innerhalb dieser Geschichte abspielt,
geschieht nahezu unmerklich:
„So schaut Gott zu uns herein“, heißt es in einer der letzten Zeilen,
„so schaut Gott zu ns herein, muss ich plötzlich denken. Einst dachte ich, er hätte tückische, stechende Augen –
Nein, nein!
Denn Gott ist die Wahrheit.“

Ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und mit großem Zittern; und mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft, damit euer Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft.

Das ist ein Wort, das wir nicht nur über Paulus,
sondern auch über Jesus sagen können.
Denn auch dieser Jesus entsprach in seinem Tun und Handeln
nicht dem Common Sense seiner Zeit.
Alles was er tat, war in der Religion der Juden vorgeprägt,
deshalb stieß er beim Volk auf große Resonanz.
Sie folgten ihm, weil sie erkannten:
Was sagt, ist wahr.
Aber den Interessen der Hohenpriester
entsprach es nicht.
Und sie fanden immer ein Bibelwort,
ja sogar einen Beleg in der Tradition,
um ihn zu verurteilen.

Die Weisheit des Kreuzes
ist ein Geheimnis,
ist eine Wahrheit, die meist quer steht
zu den Meinungen der Öffentlichkeit.
Auch quer zu ihren religiösen Meinungen.
Ist nicht eine Weisheit dieser Welt, auch nicht der Herrscher dieser Welt, die vergehen.
Sondern wir reden von der Weisheit Gottes, die im Geheimnis verborgen ist.
Ein wenig wurde das Geheimnis gelüftet
in jener Nacht, die zwischen Karfreitag und Ostern liegt.
Aber noch für Paulus blieb es Geheimnis.
Gott hat Jesus bekräftigt, aber wir haben ihn nicht im Griff.
Wir müssen das Risiko wagen,
und warten, dass der Geist sich offenbart.
Dass er uns sich offenbart.
Zum Sterben schön.
»Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat
und in keines Menschen Herz gekommen ist,
was Gott bereitet hat
denen, die ihn lieben.«

Vielleicht müssen auch wir
Durch solche Tiefen gehen,
Tiefen des Zweifels, auf der Suche nach Wahrheit,
damit Gott uns seine Schönheit offenbart.
„durch seinen Geist;
denn der Geist erforscht alle Dinge,
auch die Tiefen der Gottheit.“

Der Held in Ödon von Horvat’s „Jugend ohne Gott“
wird am Ende Entwicklungshelfer in Afrika.
Vielleicht ist das das Geheimnis.
Denken wir dem nach, wenn wir jetzt
das Jesuslied singen: „Er ist der Morgensterne“. Amen.