28 Mai 2009

Religiöser Kosmos

Theissen vermittelt in seiner Hermeneutik-Vorlesung so etwas wie einen theologischen Kosmos. Von der reinen Information über sein Thema ausgehend führt er durch seine assoziativen Einsprengsel zu persönlichen Glaubensüberzeugungen, und vor allem seine Bewertungen dargestellter Positionen, zu Basics theologischer und pastoraler Existenz.

Crucifixus

Von zwei Seiten erweist sich das Kreuz als ein abstraktes Zeichen. Vom Christlichen aus betrachtet ist es das Zeichen für die inneren Vorgänge um die Kreuzigung, vom Jüdischen aus das Bild einer Lücke, einer noch nicht vollzogenen Versöhnung des jüdischen Volkes mit seinem Gott durch den Messias. Es sind vier Aspekte, die eine sachliche Identität von Thron und Kreuz begründen:

  • Man bildet das jüdische Königtum infolge seines Scheiterns in eine Theokratie um und formt den königlichen Thron Salomos zum Kreuz; indem man den bildlosen Gott annimmt und die bildhafte Struktur des Salomonischen Throns im Kreuz zur Unkenntlichkeit deformiert, nimmt man das Kreuz als zeichen dafür, dass die Aussöhnung noch nicht stattgefunden hat.
  • Christus ist König, der neue Salomo, aber er ist den Christen König, nicht den Juden; de semiotische Aspekt verweist auf die Gleichheit von Kreuz und Thron, indem sich Kreuz und Thron zeichenhaft ineinander umformen lassen; im Zeichen des Kreuzes verknoten sich die inneren Vorgänge um die Kreuzigung.
  • Christus stirbt nicht am Kreuz um sich in den Himmel zurückzuziehen, sondern um eine neue Religion zu stiften und für immer zu bleiben. ER stirbt, um mit den Tugenden der Liebe, des Gehorsams und der Duldsamkeit den Leib zu überwinden, den Menschen zu erhöhen und mit Gott auszusöhnen. Die Versöhnung besteht darin, dass der Sohn göttlicher Vater und Mensch zugleich ist und am Kreuz die Schuld auf sich nimmt und tilgt.
  • In der Form des Kreuzes ist der Stuhl ein Zeichen für die Anwesenheit wie die Abwesenheit des Messias, das Zeichen für die Negation eines paradiesischen Seins der Juden. Den Christen gibt das Kreuz eine Identität und söhnt sie mit dem Vater aus, so dass mit dem Beginn des Christentums der Weg geebnet ist, die Herrschaft Gottes auf den Menschen zu übertragen. Das Mittel zu dieser Übertragung ist der Thron in der Form des Kreuzes.

So erweist sich da Kreuz Christi als die zweite von Menschenhand geformte Gestalt auf der Suche nach einem dem Menschen angemessenen Stuhl. Es formt sich auf der Schwelle zwischen den beiden Paradiesen von Genesis und Apokalypse und wird der Umschlagpunkt, an dem den Christen das Göttliche ins Menschliche drängt. Im Kreuz erlangt das Sitzen seine abstrakteste, der Thron seine unerträglichste Gestalt.

(Hajo Eickhoff, Himmelsthron und Schaukelstuhl. Die Geschichte des Sitzens, München: Hanser 1993, S. 6667)

Eine Sicht, die stark von einem religiösen Entwicklungsdenken ausgeht und ein Selbstbewusstsein pflegt, das sich als Christliches dem Jüdischen überlegen sieht. Mithin ein überraschender Blick auf das Kreuz als minimalisierter Thron, insofern ein kulturkritischer Impuls auf bürgerliches Hocken ebenso wie auf elitäres Thronen.

Ob Eickhoff als christlicher Denker gelten kann, oder nicht vielmehr aus einer vom Buddhismus o.ä. inspirierten Religionsphilosophie heraus Kulturgeschichte betreibt, sei noch zu überprüfen.

Sedativum

Sitzen ist Schwerarbeit. Seine Auswirkungen: Verfestigung der Skelettmuskulatur, reduzierte und geformte Atmung und Neuordnung der sinne zueinander. Der Stuhl fasst dabei den Sitzenden ein, legt sich wie eine Schablone auf das Vegetative und schneidet so die Physis, dass Funktionen geformt und gehemmt werden.

Das Umformen der Körperlast auf das Gesäß entlastet die Beinmuskulatur, schwächt sie aber zugleich und greift in funktionelle Zusammenhänge der Skelettmuskeln ein. Da das Sitzen die Gesäßmuskulatur chronisch verspannt und die Bein- und Rückenmuskeln schwächt, lässt sich der menschliche Lei nicht mehr dynamisch von unten nach oben aufbauen: Das Becken verliert seine stabilität auf den Hüftgelenken, die Wirbelsäule ihre Elastizität auf dem Becken, und der kopf ruht nicht mehr gut balanciert auf dem Atlas. Der Homo sedens verliert im Stehen seinen Halt und erlebt Sitzen zunehmend als Bedürfnis.

(Hajo Eickhoff, Himmelsthron und Schaukelstuhl. Die Geschichte des Sitzens, München: Hanser 1993, S. 156157)