12 September 2011

"Vernunft annehmen" - meine Predigt zum 11. September

Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden. Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels. Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen. Darum spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen. Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände - seine Kinder - in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten. Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.  (Jesaja 29, 17 – 24)
Liebe Schwester und Brüder, es ist

I.             Nur noch eine kleine Weile.


Jetzt schon zeichnet sich die Wende ab.
Das ist die Sprache der Hoffnung:

Was wir heute tun, trägt schon das Kleid von morgen. Nicht nur „dann“ werden Taube hörend und Blinden sehen aus Dunkel und Finsternis; wir haben schon jetzt das Gefühl, dass die Dunkelheit weicht.
Und obwohl wir uns immer noch zagend vorwärts tasten, tun wir dies mit ausgesprochenem Mut und ohne gesenkten Blick.

Das ist eine besondere Zeiterfahrung: Die Wende zeichnet sich ab.Das Heil ist nicht mehr weit.
Es reicht in unsere Zeit,
wirft seine Schatten - nein, keine Schatten! ein Lichtstrahl geht ihm voraus.

Dieses „nur noch eine kleine Weile“ klingt ein wenig so wie die Erfahrung alter und lebenssatter Menschen, denen schon geläufig wurde, dass das Leben kurz ist, die Zeit wie im Flug zerrinnt.
Zeit scheint keine feste Größe zu sein: Zeit wird erlebt, und je nach den Umständen
erscheint sie schnell oder langweilig.
„nur noch eine kurze Zeit“ – das klingt wie kurz vor einem Fest:
Jetzt geht’s nicht mehr lange.
Bald wird dein Geburtstag sein.
Bald stellen sich die Sommerferien ein; Einschulung; Erntedank; Weihnachten.

Ja, mehr noch: Deine Zeit ist Gottes Zeit.
Er ist es      
der deine Stunden zählt
und der um die Missstände des Lebens weiß:
er ist es      
der Vertrocknetes zum Blühen bringt,
in der Steppe Gras wachsen lässt und Blüten,
in der Langeweile Freude.

„nicht mehr lange“ – dann ist auch der Selbstzweifel und die Angst vor dem Fremden vorüber, Einsamkeit verfliegt und Gemeinschaft wächst erneut.
„nicht mehr lange“, so lautet auch das Hoffnungswort im Alter:
Menschen erwarten den erlösenden Tod.

„nicht mehr lange“, doppeldeutig freilich, aber voller Hoffnung.

II.       Der 11. September 2001

war ein Wendepunkt der Geschichte.

Und keine Wende zum Guten.

Neue Feindbilder, die längst besiegt schienen, tauchten wieder auf. Vielleicht war es die jahrhundertealte Türkenangst. Vielleicht auch das Schlechte Gewissen ehemaliger Kolonialherren gegenüber einer aufbrechenden Zivilisation im Süden. Es gab da ein paar geistige Väter: Samuel Huntington, Peter Scholl-Latour.
Ihre Kassandra-Rufe
bereiteten
im Verhallen
den Boden für die Saat,
die mit dem Schrecken vom 11. September aufging.

Eine Fülle von Spekulationen hat er ausgelöst,
eine Fülle von Aggressionen, Unheil und Lügengespinsten.
Und die Tyrannei ist nicht weniger geworden in der Welt.
Genau wie es der Prophet beschreibt
im 29 Kapitel des Jesajabuchs.

Unser Vertrauen in die Demokratie wird in einem Ausmaß auf die Probe gestellt, wie dies seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr der Fall gewesen ist. Immer leiser wird der Protest und immer massiver werden Bürgerrechte eingeschränkt mit dem Hinweis auf die Bekämpfung des Terrorismus. Darunter leidet auch die parlamentarische Demokratie, die Herrschaft der Vernünftigen weicht der Herrschaft der Angst.

Und die Tatsache, dass religiös begründeter Fanatismus bei jenem Attentat mit im Spiel gewesen ist, lässt in unserer Gesellschaft den militanten Atheismus aufblühen, der nicht nur den Islam kritisiert, sondern auch die eigene christliche Tradition mit Spott überzieht.

III.          Opfer auf allen Seiten

Ich persönlich war am Tag zuvor ins Krankenhaus eingeliefert worden.
Gegen 15 Uhr ging ein Lauffeuer durch die Flure:
Schaltet den Fernseher ein!

Meine erste Reaktion war: Das ist der Turmbau von Babylon.
Da hat jemand auf moderne Weise jene Geschichte nachgestellt,
die zu den Urgeschichten Israels gehört;
die der Koran scheinbar gar nicht kennt.

Die Kraft der Bilder, die dann stunden- und tagelang im Fernseher wiederholt worden sind, als Ausdruck ratloser Wiederkehr, schaltete sich in unsere Hirne ein, in unser Unterbewusstes. Bald schon begleitet von der Höhenangst beim Anblick der Menschen, die aus den Fenstern in den Tod sprangen, der Phantasie von ausweglosen Treppenhaus-Labyrinthen, Feuersbrunst in Aufzugschächten. Angst brannte sich in die Seelen auch jener, die nicht direkt betroffen waren.

Unsere erste Reaktion war „Beten“.
Bis ich aus dem Krankenhaus nach Hause kam, hatte unsere Gemeinde bereits ein Ritual eingerichtet: Man traf sich reihum in der katholischen, der evangelischen Kirche und in der Moschee. Jeder betete auf seine Weise. Ob es derselbe Gott war, können wir nicht sagen. Das Gebet der Muslime aber war ebenso klagend und friedensstiftend wie das Ritual der Katholiken und das freie Beten der Christen. Und wer bei uns in die Kirche kam, zollte dem Vater Unser ebenso Respekt wie wir vom Glaubensbekenntnis beeindruckt waren.
Es war die Hochzeit des Christlich-Islamischen Vereins am Hochrhein. Und nicht nur dort, auch in Mannheim, in Pforzheim und in Berlin haben Gespräche stattgefunden. Der Rabbiner Gérald Rosenfeld aus Lothringen hat dieser Tage den Prozess der Annäherung so beschrieben: „Der Dialog ist die einzig tragfähige Möglichkeit der Auseinandersetzung zwischen den Religionen.“

Wir erfuhren, wie bei uns Muslime geächtet,
gewissermaßen in Sippenhaft genommen wurden.
„Ich traue mich nicht mehr auf die Straße“, meinte wenige Wochen nach den Anschlägen eine unserer türkischen Mitbürgerinnen.

Tausendfältig waren die Opfer:
in den Türmen und in den Flugzeugen,
im Irak und in Afghanistan,
in Guantanamo, in Madrid und London


auf vielfache Weise hinterhältig waren die Täter:
welche die Flugzeuge steuerten,
die im Weißen Haus in Washington sitzen und
die den Terror und die militärischen Operationen steuern.

Auch die Erschießung Osama bin Ladens hatte mit dem Geist des Rechtsstaats nichts zu tun, sondern sehr viel mit der Befriedigung der eigenen Rache.
Hans Magnus Enzensberger schrieb in unter der Überschrift
„Schreckens Männer. Versuch über den radikalen Verlierer“:
„Der einzige Ausweg aus dem Dilemma ist die Fusion von Zerstörung und Selbstzerstörung, Aggression und Autoaggression. Einerseits erlebt der Verlierer im Moment seiner Explosion eine einmalige Machtfülle. Seine Tat ermöglicht es ihm, über andere zu triumphieren, indem er sie vernichtet. Andererseits trägt er der Kehrseite dieses Machtgefühls, dem Verdacht, dass sein Dasein wertlos sein könnte, dadurch Rechnung, dass er ihm ein Ende macht.“
Wer meint, er könne selbst Gott spielen, um Gottes Gerechtigkeit und sein Reich zu erzwingen, der wird zum Opfer seiner eigenen Taten. Aber auch die Rachedurstigen, die das Recht außer Kraft setzen, die Folter beispielsweise zulassen und mit vorgetäuschten Gründen Krieg führen, erleiden am Ende die Folgen ihrer Taten: hochverschuldete Staatsfinanzen, unzählige getötete Zivilisten im Irak und in Afghanistan, traumatisierte Soldaten und kein Ende des Terrors. Alle Beteiligten wissen, dass der Krieg gegen den Terrorismus militärisch nicht zu gewinnen ist. Deshalb ist der Blickwechsel, den der Prophet entwirft, so nötig.

IV.         Verstand annehmen


Zehn Jahre lang hat sich das Blatt jetzt hin und her gewendet; Religion war immer mit im Spiel: Nicht immer mit ihrer besten Seite, aber auch.

Prophetisch klingt für mich ein Wort des Berliner Pfarrer und Theologe Ernst Lange - er starb schon 1974: „Religion ist die Energie der Menschlichkeit.“

„Religion ist die Energie der Menschlichkeit.“ Das prophetische Wort aus dem Jesajabuch kann wieder Raum schaffen für Einsicht und Vernunft, wie es dem Volk Israel ausgerechnet in einer Zeit großer Bedrängnis verheißen worden ist.

Wer nur auf die Terrorgefahr blickt, dem werden wohl Vernunft und Einsicht, Lebensweisheit und politische Klugheit verloren gehen. Die Hinwendung zu Gott und seiner Weisung entzünden die Hoffnung, dass der Wahnsinn nur noch eine kleine Weile andauern wird. Im Glauben finden  wir schon jetzt den Blickwechsel, der ein Trost ist für die Blinden und die Tauben.

„Bei Trost sein“ ist eine Wirkung dieses veränderten Blicks, damit die verrückten Bilder der Zerstörung vom 11.9.2001 aus New York nicht die Signatur dieser Zeit bleiben.

V.          Finale[1]


„Es kann nicht mehr lange dauern, da werden die Menschen sich nicht mehr bedroht fühlen, wenn sie in Hochhäusern arbeiten, in U-Bahnen oder Flugzeuge einsteigen. Sie werden sicher leben. Die großen Städte werden zu Orten der Begegnung und der Verständigung. Keine und keiner wird ausgegrenzt und an den Rand gedrängt. Die Tauben werden Gottes Weisung zum Leben hören und die Blinden, deren Augen von Hass und Rache verdunkelt sind, werden endlich sehen. Die Armen werden sich freuen, weil Gott ihnen zu ihrem Recht verhilft und auch für die ärmsten Länder wie Afghanistan oder Pakistan endlich eine hoffnungsvolle soziale Zukunft sichtbar wird. Der Aberglaube der militärischen Lösungen des Terrors wird zu Ende sein. Wie die orientalischen Despoten in der arabischen Welt werden auch die anderen Diktatoren verschwinden. Die Medien werden über erfolgreiche Friedensinitiativen berichten statt über die Opfer von Selbstmordanschlägen. Die politischen und sozialen Ursachen des Terrorismus werden gezielt beseitigt. Die Folter, die jedem Verständnis des Rechtsstaates widerspricht, wird es nicht mehr geben. Gefängnisse wie Guatanamo oder Abu Ghraib werden endgültig der Vergangenheit angehören, weil sie das Recht, das auch dem Rechtsverletzer gilt, verhöhnen. Profit- und Machtinteressen, die das Recht beugen, werden in ihre Schranken gewiesen. Die Welt wird sich an den Weisungen Gottes ausrichten, weil sie erkennt, dass es nur auf diesem Weg Leben und Hoffnung gibt. Sie muss nicht mehr erbleichen noch sich schämen, wenn sie die täglichen Schreckensmeldungen hört. Als „gute Schöpfung“ wird gesehen, was beschädigt und verletzt, zerstört und verwahrlost wurde. Die verwirrten Geister, die meinten, sie könnten eindeutig zwischen Gut und Böse unterscheiden werden Einsicht zeigen; die von der „Achse des Bösen“ sprachen, erkennen dass dies eine schreckliche Anmaßung war. Die Besserwisser, die Rechthaber und Dauernörgler werden zur Vernunft kommen: sie werden nach Zielen fragen, die erreichbar sind und die Lage der Armen und Rechtlosen tatsächlich verbessern. Gott selbst weist sie auf diesen Weg.“

Amen.




[1] direktes Zitat von Werner Schneider-Quindeau; andere Passagen dieser Predigt wurden von seiner Predigthilfe angeregt, teilweise auch übernommen aus: Gottesdienstentwurf Zentrum Ökumene.

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