18 Dezember 2009

Inkarnation

Als alles still war und ruhte und eben Mitternacht war,
fuhr dein allmächtiges Wort vom Himmel
herab, vom königlichen Thron.
(Weisheit Salomos 18, 14.15)

Die Mitternacht hat ein Geheimnis. Alle Jahre bedaure ich es wieder, wenn der Spätgottesdienst nicht diese Stunde erreicht. Ein Zauber liegt darin, dass mit dem Anbruch des Geburtstagsfestes Christi zur Stunde Null des Ersten Christtags die Nacht zu schwinden beginnt, der Tag anbricht.

Dabei wird in der Fluchtlinie von Bethlehem nicht dem natürlichen Zeitlauf jene Kraft zugesprochen, die vom Tod zum Leben führt: Der Ausweg aus der Dunkelheit, wenngleich zur rechten Zeit „als alles still war und eben Mitternacht war“ wird doch diesem kaum zu beschreibenden, nie zu begreifenden, dem flüchtigen und doch schöpferischen Wort zugesprochen, und damit ganz in die Hand Gottes gestellt.

Am Ende des Wahljahrs 2009 erhoffe ich mir neue Impulse von diesem Wort.
  • „Mitternacht“, das ist das Gefühl, es würde sich nichts mehr bewegen.
  • „Als Alles still war“, das erinnert mich an Erstarrung, an die Ruhe vor dem Sturm.
  • „Ruhe zur Mitternacht“ bedeutet für mich: Das Morgengrauen steht kurz bevor, und ein neuer Tag weckt die Hoffnung auf ein nie Gekanntes, Ungeahntes. Weihnachten und Auferstehung, Neuschöpfung und Ostern rücken nahe zueinander. Das ermutigt mich, das gibt mir Kraft.
Schöpfung aus dem Nichts, das ist die Energie der Utopie. Häufig verspottet, durch vielfältigen Missbrauch in Misskredit, ist das Wort Gottes die einzige Orientierung, die wir als Christen anzubieten haben. Darüber kann uns keine Routine und keine religiöse Tradition hinweg täuschen. Weihnachten bietet uns den Durchblick durch den Mythos zu dem lebensbewältigenden Wort.

30 Oktober 2009

Streitbare Christen

Der Ratsvorsitzende der EKD Bischof Huber hat sich deutlich von Christen distanziert, die von der Unfehlbarkeit oder Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift sprechen: vom „Kreatianismus“ und von Christen, die „bestimmte sexualethische Positionen zum Maßstab aller Dinge“ machen - so wörtlich.

Anlass war ein Interview in der Zeitschrift „zeitzeichen“ sowie die Aufregung über zwei kritische Fernsehsendungen im August (Frontal21) und Oktober (Panorama). Vor allem Außenstehenden, aber auch vielen Kirchenmitgliedern fällt es schwer zu verstehen, wenn sich Missionare - wie von „Shelter Now“ in Afghanistan - in Gefahr begeben. Evangelikale haben erschreckt aufgeschrien: „Wir sind doch keine Isla-misten, die mit Bomben werfen!“

Der Rat der EKD hat sich in einer Presseerklärung schützend vor die Frommen unserer Kirche gestellt. Bischof Huber hat diese Erklärung erläutert: Ebenso wenig wie man nicht alle „Konservativen“ pauschal verurteilen darf, kann man sie auch nicht pauschal verteidigen.

Wo ausdrücklich zur Kirchenspaltung aufgerufen wird, wird der Glaube ebenso verraten wie bei der populistischen Abwehr homosexueller Lebensformen. Wo allerdings vernünftig argumentiert wird muss man die Gesprächspartner respektieren; sie dürfen sich nur nicht als die einzig Christlichen hinstellen.

Persönlich habe ich aus diesen Auseinandersetzungen gelernt: Fundamentalisten kann man heute nicht mehr Fundamentalisten nennen. Obwohl das Wort im Christentum entstand, hat es einen diffamierenden Beigeschmack; übrigens auch für Moslems! Unsere Freunde in der Moschee wollen auch nicht mit Bombenlegern in einen Topf geworfen werden.

So kommen wir in die Verlegenheit, dass wir neue Beschreibungen finden müssen, um uns respektvoll von jenen Christen zu distanzieren, die sich selbst „konservativ“ nennen; egal, ob diese Selbsteinschätzung berechtigt ist - ich persönlich meine, dass die von ihnen kritisierten christlichen Richtungen die eigentlich konservativeren, auf jeden Fall näher an der Bibel sind.

Die Reaktion der evangelikalen Medien weckt die Vermutung, dass die kritischen Fragen der Fernsehleute nicht ganz unberechtigt sind. Eine sachliche Antwort auf eine naiv gestellte Frage hätte zur Entspannung beigetragen.
Die Aktion „weltweit wichteln“ kooperiert mit dem Kinderprojekt des Evangelischen Missionswerks (EMS) 2009 bis 2011: „Die Bibel mit den Augen anderer lesen“. Die Schöpfung oder die Hoffnung auf Gottes neue Welt - das sind zwei Geschichten, die im neuen Arbeitsheft des EMS-Fokus kreativ bearbeitet werden. Einige Bibelseiten und Bastelarbeiten können zu diesem Thema gestaltet werden.

Kinder aus 25 Kirchen weltweit - aus Deutschland, Ghana, Kamerun, Südafrika, dem Libanon und Syrien, aus Indien, Indonesien, Korea Japan und China - arbeiten an denselben biblischen Geschichten. Sie dokumentieren ihre Ergebnisse und zeigen so ihre Interpretationen. So erfahren die Kinder, wie andere in der Welt über den Text nachdenken und Ideen dazu gestalten. „Weltweit wichteln“ ist eine Mitmachaktion für Kindergottesdienst, Kindergarten und Grundschule. Interkulturelles Lernen, fairer Handel und weltweite Kontakte sind Schwerpunkte der Aktion.

BROT FÜR DIE WELT und das Gustav Adolf Werk bieten Mitmachaktionen für Kinder an, die sich an den vier Leitbildern orientieren:
- Wanderndes Gottesvolk... - wir blicken über den eigenen Teller-rand
- Haus der lebendigen Steine... - wir hel¬fen Menschen zur Selbständigkeit
- Teil des weltweiten Leibes Christi... - wir pflegen weltweite Gemeinschaft
- Salz der Erde... - wir sprechen auch kritisch über die Gründe der Armut
Damit unterscheiden wir uns von Gruppen, die im Advent andere Akzente setzen. Zu ihnen gehört auch die beliebte Aktion „Weihnachten im Schuhkarton“, die keine evangelische Einrichtung ist. Bei den katholischen Sternsingern hingegen helfen unsere Kinder gerne mit, damit sie nach Galater 6, 10 „Gutes tun an jedermann“.

Glauben - Erschrecken - Jahreslosung 2010

Die kurzen Tage lassen uns wieder nach dem Licht fragen. Feierlich entzünden wir die Kerzen: Abends zu Hause, sonntags in der Kirche, zum Totensonntag auf dem Friedhof, im Dezember am Adventskranz und schließlich zur längsten Nacht des Jahres am Weihnachtsbaum.

Und selbst wer - warum auch immer - diese Kerzenrituale meidet, kennt das Gefühl, dass die Dunkelheit uns einhüllt wie in einer Höhle. Es steckt an, dieses alljährliche Nachdenken: Über Vergänglichkeit, Neue Zeit und das Hoffnungslicht. Die Jahreslosung für 2010 nimmt diese Stimmung auf:

Christus spricht: Erschrecket nicht.
Glaubet an Gott und glaubet an mich.
(Johannes 14, 1)


Das Erschrecken scheint zum Evangelium zu gehören wie die Finsternis zum Licht. Als ich einmal in einer Weihnachtspredigt dieses Erschrecken zum Ausdruck brachte, drohte mir ein Gemeindeglied mit dem Kirchenaustritt. Es passte nicht in seine Weihnachtstimmung. Ein führender Theologe unserer Kirche ermahnte uns vergangenes Jahr, im Advent sollten wir die Bedürfnisse der Gottesdienstbesucher respektieren; manche Predigttexte der Adventszeit eigneten sich für diese Gottesdienste nicht mehr. Tatsächlich erlebe ich, dass die „softe“ Frömmigkeit stärker wird: Gotteserfahrung wird weichgespült, die Zumutungen des Evangeliums abgewehrt.

Nicht braucht euch nun zu schrecken sein klein gering Gestalt. Was tut er drunter decken? Sein mächtig groß Gewalt. Er liegt wohl in der Krippen in Elend, Jammer groß, ist doch Herr aller Dinge, sein Herrschaft hat kein Maß. So hat Leonhard Schröter 1640 gedichtet.

Bei allem Wissen um das Erschrecken beibt dieses freundliche „fürchtet euch nicht“ als Ziel des Evangeliums. Ich wünsche mir, ich könnte die Zuversicht mit viel mehr Menschen teilen, dass trotz vieler Widerstände im Alltag Gott uns wohl gesonnen ist.

Für Johannes ist Jesus ein Wort-Ereignis, das uns von Angst befreit, wie ein Licht in der Finsternis.

Gerade weil er sich einhüllt in erschreckende Ereignisse, spricht Gott uns Mut zu.

24 August 2009

Kaffee, Schnaps und Sahnehäubchen

Ein Gläschen Schnaps in den Kaffee und oben drauf die Schlagsahne. Fertig ist der Pharisäer. Das Auge kann den Alkohol sowieso nicht sehen. Jetzt kann ihn die Nase kann auch nicht riechen. Die Schlagsahne dient als Versteck.
Auf den ersten Blick etwas Anderes, als in Wirklichkeit.
Oberflächlich schön, in Wirklichkeit ganz schön alkoholisiert.
Kaffee, Schnaps und Sahnehäubchen -
Damit bin ich beim Thema meiner Predigt:

Der „Pharisäer“ ist Inbegriff dafür, dass der äußere Schein trügt.
Das Klischee hat Jesus selbst benutzt. Und dieses Klischee hat gewirkt,
bis in die Benennung eines Ostfriesischen Getränks hinein.
Eigentlich meinte er aber nicht den Pharisäer seiner Zeit.
Und die Prediger der Alten Kirche, die dasselbe Klischee übernahmen,
konnten die Pharisäer auch nicht meinen.
Nicht die eigentlichen jüdischen Pharisäer,
sie meinten das Pharisäische im Christentum.
Pharisäer, das sind immer auch wir. Ich lese den Predigttext aus Lukas 18,9-14:
II
Er sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

Er hätte das Ganze auch mit dem letzten Satz sagen können.
Dann gäbe es dieses eigentümliche Getränk namens Pharisäer nicht.
Jesus wollte nicht nur eine These aufstellen. Jesus wollte nicht nur
das harte Brot moralischer Thesen. Er wollte uns eingängig erzählen, was Sache ist.
Drum benützt er solch ein Bild,
erzählt süffisant
von inneren Konflikten,
im Tempel, in der Kirche,
in der einen religiösen Gemeinschaft
gibt es solche und solche. Und oft
ist der Bruch auch in dir drin.
Da ist die Pharisäerseele,
und die Büßerseele.
Beide können selbstgerecht werden; beide können echt sein.
Wesentlich ist - dazu dient der Schlusssatz - ob du dich damit produzierst.
III
Man kann sich nämlich auch pharisäisch selbst erniedrigen. Die Fromme Helene ist das klassische Beispiel. Gezeichnet von Wilhelm Busch:
  • Doch ist Helene nicht allein
    Nur auf sich selbst bedacht. - O Nein! -
  • Ein guter Mensch gibt gerne acht,
    Ob auch der andre was Böses macht;
  • Und strebt durch häufige Belehrung
    Nach seiner Beßrung und Bekehrung.

In einer Welt der Zwiegespaltenheit
ist die Jungfer Helene gar nicht die eigentliche Pharisäerin,
obwohl das Ebenbild der Frömmlerin, die ihrer selbst nicht Herr geworden ist und am Ende in der Hölle landet

  • Es ist ein Brauch von alters her:
    Wer Sorgen hat, hat auch Likör!

Im Abgesang ist es der Zuschauer selbst, den Wilhelm Busch als Onkel Nolte zeichnet und den er uns als Spiegel vor die Augen hält:

  • Als Onkel Nolte dies vernommen,
    War ihm sein Herze sehr beklommen.
  • Doch als er nun genug geklagt:
    »Oh!« - sprach er - »Ich hab's gleich gesagt!
  • Das Gute - dieser Satz steht fest -
    Ist stets das Böse, was man läßt!
  • Ei, ja! - Da bin ich wirklich froh!
    Denn, Gott sei Dank! Ich bin nicht so!!«

Das ist der Pharisäer, dieses „Ich hab’s gleich gesagt.“
Und sein typischer Satz lautet: „Gott sei Dank! Ich bin nicht so!“

IV

Wir haben da so eine protestantische Spielart des Pharisäertums.
Die institutionalisierte religiöse Selbstbestimmung.
Dass jeder selbst für seinen Glauben verantwortlich ist, hat sich nicht nur bei uns Potestanten festgesetzt; auch mancher Katholik meint, mir mit solchen Sprüchen schmeicheln zu können:
Herr Pfarrer, man muss doch nicht zur Kirche rennen, um Christ zu sein.
Ich kann ja auch zu Hause beten. Und in der freien Natur bin ich Gott auch nahe.
Ich lasse mir nicht vorschreiben, wie oft ich zur Kirche gehe,
Das ist ein weit verbreitetes, scheinbar emanzipiertes Denken.
Und man kann ja auch überhaupt nichts dagegen sagen, nur:
Die Art, wie das dann vorgetragen wird,
mit diesem Unterton der Selbstrechtfertigung,
der ja im Grunde unterstellt, dass der Gott etwas anderes von uns verlangt,
und voraussetzt, dass es den Zwang zum Kirchgang eigentlich auch gibt,
- den es in Wirklichkeit noch nie gegeben hat -
- aber das wollen die Leute in ihrer Zwanghaftigkeit nicht wahrhaben -
diese Eigenmächtigkeit, die in solchen Sätzen mitschwingt,
die selbsterlösende Forderung, Gott müsse mir gnädig sein,
auch wenn ich die von mir erfundenen Gesetze Gottes nicht erfülle,
das ist das eigentliche, modern-preußische Pharisäertum,
das gerade nicht sagt: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute,
sondern: Ich danke mir selbst, ich bin nun mal so wie alle anderen.

Dass er vordergründig überhaupt nicht raubt, betrügt, die Ehe bricht,
aber voller Stolz spricht Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie diese Kirchgänger,
diese Selbstgerechtigkeit mit der man sich heute
nicht von den Zöllnern absetzt, sondern von sich selbst behauptet, kein Heuchler zu sein,
die ist das wahre, emanzipierte Pharisäertum.

Es gehört zum Guten Ton, dass man als Christ voller Stolz und selbstbewusst
das Fasten aufgegeben hat, und keinen Zehnten mehr gibt,
und dass man sich lächerlich macht über die Frömmigkeit der Muslime,
die den Ramadan halten, nach Mekka pilgern und fünfmal täglich ihr Gebet verrichten.

Ich darf mit einem verschmitzten Lächeln hinzufügen,
um die ganze Litanei auf die Spitze zu treiben:
Gott sei Dank, dass hier und heute
in diesem Gottesdienst keine solch selbstgerechten Menschen sind.

V

Es ist im Christentum durchaus üblich,
zum Morgen und zum Schlafengehen ein Gebet zu sprechen:
Schlagen sie in Ihrem Gesangbuch die Nummern 808 auf und die Nummer 814: da finden Sie
den Morgensegen, und den Abendsegen,
und das Tischgebet.
Ich werde nicht müde zu unterstreichen, dass wir dreimal täglich mit unseren Glocken zum Vater Unser rufen. Und das Fasten ist nicht erst mit 7WochenOhne wieder in die Mode gekommen; in der alten Kirche hat man zweimal die Woche gefastet, obwohl die Geschichte vom Pharisäer und vom Zöllner durchaus geläufig war. Religiöse Übung verstößt überhaupt nicht gegen die christliche Freiheit; im Gegenteil.

Eigentlich hatte der Pharisäer ja recht: Es war gut, dass er kein Räuber war, kein Betrüger oder Ehebrecher. Und kein Nazi-Spitzel, und keiner von der Stasi oder vom CIA. Diese Zöllner waren nun mal Kollaborateure!

Es war doch nicht falsch, dass er zweimal in der Woche gefastet hat. Und der Zehnte, das war damals die einzige Form von einer Sozialversicherung. Heute liegt sie bei 20 Prozent nur für die Altersvorsorge: Wir alle zahlen sie. Und dazu noch Krankenversicherung, und Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag.

Aber dass er den Schatten in seiner eigenen Seele nicht sieht, das hat man ihm vorgeworfen.
Dass er über all seiner religiösen Aktivität sich abgrenzt von diesem Zöllner und Sünder,
der mit ihm im selben Tempel steht und betet, das hat Jesus kritisiert.

VI

Diese starke Verbundenheit über das Sakrament in der Katholischen Kirche nimmt ja immer mehr ab. Die Frömmigkeit wird moderner, reflektierter, protestantischer. In unserer Kirche gab es schon immer eine Tendenz zu mehr Nachdenken; die Predigt und die Schriftsauslegung steht eher im Vordergrund. Da hat die Katholische Frömmigkeit inzwischen nachgezogen: In unsere Bibelwochen kommen viel mehr katholische Mitchristen als Evangelische. Man hat den Eindruck, die protestantische Schriftfrömmigkeit sei ausgewandert in die Schwesterkirchen. Zumindest landläufig und in der Volksfrömmigkeit hat sich die evangelische Freiheit im Protestantismus längst deformiert zu einer Unverbindlichkeit. Über kurz oder Lang wird diese moderne Beliebigkeit auch die anderen Kirchen erreichen, wenn wir nicht gemeinsam im Tempel stehen und um Gottes Wort ringen.

Hauskreise - oder wie sie in der katholischen Kirche heißen „Familienkreise“ - haben weitgehend die Bibelstunden ersetzt. Es gibt eine neue Untersuchung darüber - eine der spannendsten Entdeckungen aus meinem Kontaktstudium: Ein pensionierter Dekan aus Württemberg hat darüber seine Doktorarbeit geschrieben. Er kommt zu dem Ergebnis: Hauskreise sind eine Schule demokratischer Tugenden. Man übt sich in der Freie Rede, im spontanen Formulieren und Diskutieren. Gewissermaßen als Nebeneffekt neben dem Studium der Heiligen Schrift hält der Gesprächskreis geistig rege. Ich hab im Gemeindebrief ein wenig darüber geschrieben und angekündigt, dass ich die Predigt am Reformationstag darüber halten will. Da gibt es ein Element gemeinsamer Frömmigkeit, das wir als evangelische und katholische Christen ausbauen müssen.

VII

Da stehen sie also nebeneinander und beten, die Zöllner und Sünder - und die Pharisäer.
Und könnten Gemeinschaft miteinander pflegen.
Stattdessen reden sie aneinander vorbei
und gehen unverändert wieder zurück.
Der eine - so vermutet Jesus - ein wenig mehr gerechtfertigt.
Also mit Gott eher in Ordnung als der andere.
Aber so ganz in Ordnung eben doch auch nicht.
Etwas fehlt auch ihm: Dass er von Menschen angenommen worden ist.
Eine bittere Wurzel ist geblieben:
Sein gebet wurde von Gott erhört,
aber eben nur von Gott.

Der einzige, der tiefer blickt, ist Jesus, der von ihm erzählt.
Und wir, die wir von ihm erzählt kriegen, wir wissen,
dass vor Gott sein Gebet, sein kurzer Seufzer zählt.
Dem andern, dem Pharisäer, müsste erst noch jemand davon berichten,
müsste ihm ins Gewissen reden, ihm zeigen, dass er zwar äußerlich
richtig liegt, aber tief im Herzen noch verbogen ist,
verkrümmt, verliebt in sich und seine Selbstliebe.

VIII

Erst dann wird der Pharisäer bemerken, wie sehr er dem Zöllner gleicht.
Sobald er erkennt, wie schwer es ist, kein Pharisäer zu sein.
Da kommt auch über seine Lippen dieser erlösende Satz,
der nicht erlöst, weil er als Satz nachgesprochen worden ist,
sondern weil er Ausdruck einer großen, tiefen, leidvollen Erkenntnis ist:
Ich komm nicht raus aus meiner Überheblichkeit.
Ich kann meine Selbstgerechtigkeit nicht überwinden.
Aus eigener Kraft - schaffe ich es - nicht!
„Gott sei mir Sünder gnädig!“

Und da sind beide genau wie wir.

IX

Fromm sein, liebe Schwestern und Brüder, ist etwas Schönes.
Es kann ungeheuer stark sein, innerlich
und das Aussehen eines Menschen verändern.
Nicht dass man die Stigmata Christi trägt wie Franziskus
oder eine schleife im Haar wie die Schwestern von Adelshofen:
eine Ordenstracht wird nur von Wenigen erstrebt,
mystische Erfahrungen sind heute meist anderer Natur.
Aber wir wissen, in der katholischen, und in der gemeinsamen Kirchengeschichte genauso wie im modernen Protestantismus gibt es Gruppen, Vereinigungen, Organisationen,
die sich gegenseitig beistehen, einander helfen im Glauben zu leben
und sich auch gegenseitig korrigieren, wenn es Fehlentwicklungen gibt:
sowohl in Richtung falscher Selbstgerechtigkeit
als auch ins andere Extrem: Demut kann Krankhaft werden,
der Versuch der Jesusnachfolge eine Seele verkrümmen.
Echte Frömmigkeit findet ihren Weg zwischen den Extremen
von Pharisäertum und Bigotterie.

X

Echte Frömmigkeit ist schwach.
Es ist nicht mehr als ein Seufzer,
den der Zöllner zu sprechen wagt,
und auch der Pharisäer, wenn wir es ihm gesagt haben,
wenn er gelernt hat, wie erbärmlich er eigentlich ist:
wie gottserbärmlich - „Gott sei mir Sünder gnädig“
„Gott erbarmt sich - hoffentlich - über mich“.
Mehr sagen kann er nicht; aber dieser Seufzer ergreift Seele und Leib.
Und hoffentlich auch dich, der du den Auftrag hast,
ihm seine Schwachheit zu predigen,
vor Augen zu halten, wer er wirklich ist,
bangend und zitternd.
Denn auch du bist nicht sicher, ob die Wort stark genug ist,
den Zöllner und den Pharisäer zu erreichen.
Wahre Frömmigkeit zeigt sich in der Schwachheit.
In der Schwachheit bist du stark,
nicht weil du schwach bist,
sondern weil sich Gott über deine Schwäche erbarmt.
Aus diesem Bangen und diesem Zittern
wirst auch du fromm sein, mit Leib und Seele, durch und durch.

Σ

Ich mag keinen Pharisäer. Vielleicht weil ich kein Ostfriese bin.
Ich kann diesem Geschmack von Schnaps oder Rum im Kaffee nichts abgewinnen.
Man könnte ja die These aufstellen, dass die wenigsten Menschen tatsächlich gern Kaffe mit Schnaps und Sahnehäubchen trinken, und dass sie einfach gern mit dieser Form von Pharisäertum kokettieren. Aber das ist nun wirklich eine Spekulation.

Ich persönlich jedenfalls ziehe den Cappuccino vor. Im Italienischen Sommer mag ich vormittags diese Kaffees mit aufgeschäumter Milch. Und diesen trinke ich dann mit Zucker, obwohl ich normalerweise den Kaffee schwarz trinke. Ich nehme ein Tütchen Zucker und streue es oben drauf. Das macht das Sahnehäubchen so schön knusprig. Und dann löffle ich es genüsslich ab. Und ein teil von der Zuckerkruste sinkt hindurch und süßt den gesamten Kaffee; manchmal braucht’s ein Löffelchen extra. Das reicht manchmal sogar als Zwischenmahlzeit. Cappuccino macht stark.

Ein guter Cappuccino ist aus stark gebranntem Kaffee gemacht.
Aber es fehlt - wie beim Pharisäer - die alkoholische Schärfe.
Und er ist durch und durch süß.
Ein Wohlgeschmack für unsere Nerven,
vielleicht eben solch ein
Wohlgeschmack,
wie es
ein durch und durch frommer Mensch für Gott ist. Amen.

18 Juli 2009

Paulus - der erste Moderne Christ

1. Nulloption „Windmühlen“

Liebe Gemeinde,

den Ritter von der traurigen Gestalt kennen Sie: Vielleicht als Comicfigur, aus Filmen, manche sogar aus den beiden Büchern, die Miguel Cervantes geschrieben hat: Don Quichotte.

Erzählt von einem modernen Menschen, der sein Leben selbst in die Hand genommen hat. Er hat sich zu einem originellen Lebensentwurf entschieden: anhand der Ritter-Romane, die er gelesen hat. Er wollte so gern ein Ritter sein. So ließ er sich eine Rüstung anpassen und seinem Klepper auch einen Satz Beinschienen. Und dann zog er hinaus in die Welt, um gegen andere Ritter zu kämpfen, die es nicht mehr gab.

Am Ende fand er dann noch einen einzigen, der mit seinen vier Sicheln durch die Luft fuchtelte: Don Quichotte kämpft mit den Windmühlen.

Paulus ist kein Don Quichotte gewesen. Paulus war ein Moderner von anderer Qualität. Ihm hab ich meine Predigt zum Paulus gewidmet: „Paulus - der erste moderne Christ.“

2. Paulus ist uralt

  • das erste Mal, dass Paulus in der Bibel auftritt, steht er auf der anderen Seite. Es heißt, er sei dagestanden und habe die Kleider der Menschen bewacht, die den Diakon Stephanus gesteinigt haben. Stephanus war Armenpfleger der jüdischen Christenge-meinde. Er war unbeliebt bei jenen Juden, die nicht an Jesus glaubten. Sie hatten sich zusammengerottet und ihn zu Tode gemobbt. Und es heißt, dass Stephanus, kurz bevor er unter dem Hagel von Steinen starb, über sich den Himmel offen stehen sah.
  • auch Paulus hat den Himmel offen gesehen. Er war in Rage geraten und wurde an-gehalten. Die Vernichtung der jüdischen Sekte wollte er weiter führen: Mit Ermächtigungsbriefen ist er nach Damaskus geritten, um dort die Christen in die Schranken zu weisen. Kurz vor Damaskus kam Christus über ihn. Die einen sagen, es war ein helles Licht, die andern hörten eine Stimme und sahen nichts. Saulus, wie Paulus damalsnoch hieß, fiel geblendet vom Pferd. Es brauchte einen ehrenwerten Ältesten aus Damaskus, der ihm die Hände auf legte, und die Blindheit vollkommen heilte.
  • die Tragik seines Lebensgeschicks läst sich am besten mit einer Geschichte beschreiben: Als Jude wurde Paulus angeklagt, weil er Nichtjuden in die Gemeinschaft hineinließ. Er sollte zum Tode verurteilt werden, da brachte er seine zweite Identität ins spiel: Ich bin nicht nur Mitglied des Jüdischen Volks; ich habe auch die römische Staatsbürgerschaft - Gerettet vom Galgen musste er jetzt als Gefangener des Kaisers nach Rom reisen. Diesem Umstand verdanken wir eine der schönsten Seemannsgeschichten in der Heiligen Schrift. Mit dem Schiff wurde er nach Rom expediert, hat als Gefangener Schiffbruch erlitten, wurde auf Malta gerettet, erreichte die kaiserstadt. Wahrscheinlich ist er als Gefangener, oder kurz nach seiner Freilassung in Rom gestorben.
  • "eingekerkert und doch frei", das ist typisch Paulinisch: Einmal sogar, da erschütterte ein Erdbeben sein Gefängnis. Paulus hatte die Freiheit, im Gefängnis zu bleiben. Als Gefangener hat er einige der schönsten Texte geschrieben, die uns in der Bibel überliefert sind.

3 Zenit der Zeit

Petrus war vor ihm gewesen. Der schwankende Felsen auf den Jesus seine Kirche bauen sollte, hatte zuerst erkannt, was eigentlich schon immer Gottes Ziel gewesen ist: dass auch Nichtjuden zu Gott kommen dürfen. Petrus hatte jene Vision von unreinen Tieren, die in einem Leintuch vom Himmel herab gelassen wurden. „Was ist als rein erklärt habe, das sollst du nicht für unrein befinden“, hatte die Stimme Gottes erklärt. Petrus hatte Gemeinschaft mit Heidenchristen. Aber dann hat er geschwankt, als seine früheren Freunde kamen. Sitte und Brauchtum und das geschriebene Gesetz waren ihm wichti-ger. Paulus hat ihn kritisiert: Neue Zeiten fordern neues Denken. Bei Gott ist nichts unmöglich. Alte Gräben werden überbrückt. Unser Glaube ist innovativ.

Während Petrus die Treue zur Thorah festhielt, waren für Paulus die neuen Menschen wichtiger: Menschen-Treue statt Buchstabentreue, das macht lebendigen Glauben aus.

Paulus ist kein Don Quichotte.
Paulus übersetzt den Glauben in die neue Welt
Und bündelt damit die alten Kräfte in einer neuen Ausrüstung.

Er transformiert in einem neuen Anlauf ein altes Thema und schreibt im 1. Korintherbrief:

Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsre Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich. Wir würden dann auch als falsche Zeugen Gottes befunden, weil wir gegen Gott bezeugt hätten, er habe Christus auferweckt, den er nicht auferweckt hätte, wenn doch die Toten nicht auferstehen. Denn wenn die Toten nicht auferstehen, so ist Christus auch nicht auferstanden. (15, 14-16)

4 Versuch eines Axioms

Ein Gedicht illustriert die Zaghaftigkeit dieses Glaubens (CD "Auferstehung" von Janus)

  • Alles beginnt von vorn:

    Die Trauer, die uns lähmt
    das Leiden, das uns zähmt
    die Lügen, die uns brechen
    die Illusionen, die Versprechen
    die große Hoffnung, die sich nie erfüllt
    ein ferner Gott, der sich in Schweigen hüllt
    das lange Warten auf den neuen Tag
    ein trübes Zwielicht, das nie enden mag.

    Das Hoffen und das Sehnen
    die Trauer und die Tränen
    das Trennen und das Scheiden
    die Lügen und das Leiden
    das Stolpern und das Fallen
    das Klammern und das Krallen
    die Masken und das Lachen
    alles, alles beginnt von vorn.

    Der Phönix steigt aus der Asche
    schwingt sich hinauf ans Licht
    Seine Federn fangen Feuer
    sein Leib zerbricht.

    Der Phönix steigt aus der Asche
    thront hoch oben auf dem Lügenberg.
    Sein Tod, ein grelles Feuerwerk.
    Wir feiern unsere Auferstehung...

5 Aufstand als Auferstehung

  • was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? - heißt es im 8ten Psalm
  • merk auf mein Schreien, vernimm mein Gebet von Lippen, die nicht trü-gen. - betet der 17te Psalm und fährt dann fort:
  • Behüte mich wie einen Augapfel im Auge, beschirme mich unter dem Schatten deiner Flügel vor den Gottlosen, die mir Gewalt antun, vor meinen Feinden, die mir von allen Seiten nach dem Leben trachten.
  • Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von mei-nem Fleisch? - klagt der Dichter im Buch Hiob, und er fährt fort:
  • Ach daß meine Reden aufgeschrieben würden! Ach daß sie aufgezeich-net würden als Inschrift, mit einem eisernen Griffel in Blei geschrieben, zu ewigem Gedächtnis in einen Fels gehauen!

So hat sich der Glaube an eine Auferstehung in jüdischer Zeit schon entfaltet, wurde allmählich zu einer Erkenntnis, die unabwendbar geworden ist.

  • Aber ich weiß, daß mein Erlöser lebt, und als der letzte wird er über dem Staub sich erheben. Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.

Der alte Simeon im Tempel hat diese Hoffnung aufgenommen, als er den neugeborenen Jesus auf die Arme nahm.

  • Nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen.

Und im Buch Hesekiel entwickelt sich daraus eine regelrechte geistvolle Phantasie, die an die Praxis der Taufe erinnert:

  • Ich will reines Wasser über euch sprengen, daß ihr rein werdet; von all eurer Unreinheit und von allen euren Götzen will ich euch reinigen. Und ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein flei-schernes Herz geben. Ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und danach tun.

Und in der Vision vom Totenfeld beschreibt er in surrealistischer Manier:

  • ich weissagte, ... Da kam der Odem in sie, und sie wurden wieder leben-dig und stellten sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Is-rael. Siehe, jetzt sprechen sie: Unsere Gebeine sind verdorrt, und unsere Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns. Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will eure Gräber auftun und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf und bringe euch ins Land Israels.
    Da wird die Hoffnung von Individuen mit der Hoffnung des ganzen Volkes zusammen-gerückt.

6 Das Gelächter der Verächter

Nicht Rechthaberei, sondern Glaube.
Nicht Logik bestimmt diese Wissenschaft, sondern Geist.
Kein weltumspannendes Gedankengebäude,
sondern Versuch und Irrtum prägen das Denken.

Nicht Statik, sondern Bewegung.
Nicht Dogmatik, sondern Anbetung.
Nicht die Vergangenheit, sondern ein lebendiger Geist,
nicht Ordnungen sondern Phantasie schafft neues Leben.

Kein Behaupten, sondern Denken.
Kein Berechnen, sondern Schenken.

Als Paulus auf dem Tempelberg der griechischen Hauptstadt Korinth von seinem Glau-ben an die Auferstehung anfing, da ließ man ihn vornehm-freundlich abblitzen:
„Wir wollen dich ein andermal darüber anhören“, hieß es ironisch;
Auf deutsch: „Was du da sagst, ist doch ein wenig verrückt;
wir haben im Moment keine Lust, uns damit zu beschäftigen.
In das Weltbild der Philosophie passt Auferstehung nicht.
Das sollten auch wir uns ganz hübsch zu Herzen nehmen.
Auferstehung ist keine Theorie, sondern eine Hoffnung,
die auch der intellektuellen Ironie widersteht:
eine Hoffnung, die weiter trägt,
über den Horizont hinaus.

Eine durch und durch moderne
Schau von dir selbst
und von der Welt.

Nicht das Gelächter der Verächter bestimmt dein Leben.
Gott will dir neue Hoffnung geben.

Nicht das Gelächter der Verächter bestimmt dein Leben.
Gott will dir neue Hoffnung geben.

7 Vom Frust zur Freiheit

Dein Leben beginnt mit deiner Geburt.
Und es endet mit dem Tod.
Schule und Kindergarten,
Hochzeit und Konfirmation,
Karriere und Berufsausbildung sind Stationen auf einem natürlichen Weg.
Und wenn du über die Fünfzig bist, wie ich, macht die Depression sich breit:
„Ist das schon Alles gewesen!?“

Dabei war es doch immer ein Abenteuer gewesen, ob du überhaupt
das Klassenziel erreichst, die Abschlussprüfungen bestehst,
die Stelle erhältst, die Arbeit fristgerecht ablieferst.
Stationen in der Lebenszeit, die uns Spannung
und allzu oft auch Frust bereitet haben.

Mit der Auferstehung kommt ist neue Zeitansage in dein Leben eingetreten.
Du lebst nicht nur „von der Wiege bis zur Bahre“.
Du lebst von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Du schuftest nicht nur für den Augenblick,
du lebst aus einer Kraft, die den Moment übersteigt.
Und wenn du einmal gescheitert bist,
dann gibt es immer eine zweite Chance, eine dritte, eine Vierte.
Nach jedem kleinen Tod bietet sich ein neues Leben.

Auferstehung meint nicht in erster Linie, dass nach dem Sterben
irgend etwas weiter geht - doch das auch,
aber Auferstehung heißt in aller erster Linie,
dass dieses Leben eine Chance erhält,
dass ein Scheitern nie das Ende ist
und dass Gott auch die schönsten
Momente noch verfeinert.

Amen.

16 Juli 2009

Was hindert Kirche, sich zu verändern und zu bewegen?

Wer betet, will zunächst die Augen schließen und ganz bei Gott sein. Sein Reich - so dünkt uns - sei etwas ganz Besonderes: eine Ära, die mit unserem mühsamen Alltag nicht verfilzt sein darf. Wir singen eine andere Art von Liedern, treten in einen anderen Raum, wenn wir den Gottesdienst betreten, sprechen eine Sprache, die sonst nicht gesprochen wird. Wir lasen Gefühle spielen, die uns aus dem Allltag heraus erheben. Das bietet einen therapeutischen Frei-raum; wir dürfen die entlastende Funktion dieser Trennung nicht gering schätzen.

Aber dann gibt es Menschen, die interessieren sich für diese Form von Religion überhaupt nicht mehr, weil sie so von ihrem Gefühlsleben so weit entfernt ist. Die „old time religion“, der Glaube früherer Tage findet keine Brücke mehr zu unserem Leben. Väter nehmen ihre Kinder lieber mit auf den Fu߬ball¬platz. Die Musik unserer Kinder unterliegt jährlich wechselnden Moden, gesungen wird allenfalls noch mit Karaoke. Wenn diese Menschen wieder zur Kirche kommen, dann ist die Distanz groß geworden. Fremd geworden sind sowohl die alten wie die neuen Lieder.
Der Heidelberger Theologe Fritz Lienhardt berichtet von einer Untersuchung über Christen, die am Gemeindeleben nicht mehr teilnehmen. Dort wurde festgestellt, dass diese Menschen überhaupt nicht begeistert sind, wenn Kirche sich verändert. Wenn sie nach drei oder dreizehn Jahren - wegen einer Hochzeit oder Taufe - oder zu einem Weihnachtsfest zur Kirche zurück kehren, soll möglichst Alles so sein wie früher. Er zieht daraus die Konsequenz: Eine lebendige Gemeinde, die ein pulsierendes Leben vorweist und sich ständig verändert, kann die Langeweile vertreiben; dem Wiederge-winnen distanzierter Christen dient die Modernisierung nicht. Wer nur zu bestimmten Anlässen religiös aktiv wird, trägt den Sa-men jenes emotionalen, hochreligiösen Konservatismus in sich - ist ein potentieller Bremser. So kommt es zum Konflikt: Hier eine kleine Zahl engagierter Christen, die sich stetig vom Glauben verwandeln lassen, dort die große Masse konservativ Gesinnter. Pfarrer und Älteste stehen dazwischen, tragen teilweise gar die Spannung in sich, werden bestenfalls blockiert, schlimmstenfalls jedoch aufgerieben.
Während in lebendigen Gemeinden der sonntägliche Kirchgang die Regel ist, hat es sich in unserer Kirche eingespielt, dass selbst verantwortliche Mitarbeiter vierzehntägig zur Kirche gehen, oder noch seltener. Das ist ein Ausdruck evangelischer Freiheit; und diese Freiheit verlangsamt den Prozess des gemeinsamen Lernens. Ich glaube, dass wir in der evangelischen Kirche weitere Treffpunkte neben dem Gottesdienst brauchen: Nicht allein zur Geselligkeit, sondern auch zum geistlichen Gespräch.
Wenn sich möglichst viele Menschen am Gemeindeleben beteiligen, bedeutet dies für alle, die in der Gemeindeleitung tätig sind: Wir müssen umlernen, eine neue Kultur der gegenseitigen Begeisterung entwickeln und miteinander reden! Nicht dass wir uns dem Zeitgeist ausliefern: Aber eine lebendige Gemeinde muss am Puls der Zeit liegen und immer wieder Brücken bauen vom Alltag ins Heiligtum und zurück.

06 Juli 2009

Erträge

Aus Exegese und Kirchengeschichte, Soziologie und Kulturanthropologie, aus der Lebenswelt meiner Mitarbeiter und Mitchristen ebenso wie aus den Denkbewegungen abstrakter Philosophie erfahre ich neuen Mut und viele Anregungen, meine Arbeit als Geistlicher in Kirche und Gemeinde weiterzuführen.

Ich freue mich neu auf das Wirken des Geistes in der Gemeinde der Getauften und möchte die Gemeinschaft vor Ort ebenso ernst nehmen wie die selbstkritischen Impulse der Theologie. Das Evangelium birgt ein großes Potential, sich selbst in Neues einzufügen, und es gibt Ant-worten auf moderne Fragen, erstaunlicherweise auch im Rückgriff auf alte Traditionen. Diese Entdeckungsreise macht Spaß; ich hoffe, ich kann die damit verbundene Freude weitergeben.

Dass ich ausgerechnet zu dem Buch von Richard Reininghaus über Hauskreise gegriffen habe, liegt wohl darin begründet, dass ich mich schon lange mit der Frage beschäftigt, wie in der Volkskirche eine fundierte Bibelfrömmigkeit gepflegt werden kann. Ich konnte während des Kontaktstudiums zweimal an einem Hauskreis teilnehmen, der deutlich von der Tradition der Evangelischen Akademikerschaft geprägt ist. Ich stamme aus einer Gemeinde, die von der wöchentlichen Bibelstunde geprägt war. Ob der Hauskreis eines Pfarrers eine Mischform wird, möchte ich gerne sehen.

Predigen werde ich - im Nachgang zum Paulusjahr bereits angekündigt - über die Auferstehung nach 1. Korinther 15; die neue Perspektive auf Paulus wird hier auf jeden Fall einflie-ßen. Und für die Prädikanten des Kirchenbezirks werde ich eine Andacht zum Torgauer Kan-zelrelief halten. Angeregt von diesem Predigttext könnten wir vielleicht auch die Tradition der Kirchweih neu in der Gemeinde aufgreifen.

Die Bultmann-Biographie werde ich mir zu Weihnachten wünschen, die Parallaxe von Žižek weiter studieren, und natürlich die Exegese des Hebräerbriefs weiterführen! Was im Alltag der Gemeindearbeit davon zu bewältigen ist, kann ich noch nicht einschätzen; ein wöchentli-cher Studientag lässt sich als voller Kalendertag nach meiner Erfahrung nicht organisieren. Vielleicht kann ich ab und zu einen Fernsehabend durch Studium ersetzen.

Für Badische Pfarrer müsste eine Möglichkeit eröffnet werden, an den Denkvorgängen der Fakultät per eLearning teilzunehmen. Die Vorlesung Lienhardt’s zum EKD-Positionspapier „Kirche der Freiheit“ habe ich im Elektronischen Semesterapparat verfolgen können. Als Kontaktpfarrer haben wir einen Abend lang mit dem Dozenten, und beim Bischofsgespräch über die Badische Rezeption im Leitbildprozess diskutiert. Die Begegnung mit Herrn Lienhardt hat mich ermutigt, in meinen beiden Pfarreien weiter einer Milieuverengung entgegenzuwirken; auch auf dem Lande kann hier meines Erachtens arbeitsteilig vorgegangen werden.

Einer der Lehrvikare, der an meiner Umfrage zur Predigt mit dem Hebräerbrief teilgenommen hat, schrieb im Blick auf die schwer verständlichen Passagen dieses Briefes „es wäre schade, wenn man diese Klippen umschifft und nicht auf diesen Inseln anlegt um sich umzusehen. Mag sein, dass man schnell wieder ablegt. Die Erfahrung nimmt man trotzdem mit.“ Das Kontaktstudium war für mich eine solche Insel.

Ich habe gerne angelegt.

Sacrificium, Victim und Offertium

Eine dreifache Differenzierung des deutschen Opferbegriffs hat Walter Sparn (NZSyTh 50, 2008) vorgelegt. Alle drei begrifflichen Nuancen haben in der kirchlichen Praxis ihren Ort.
  1. Die Deutung des Opfers Jesu als Sacrificium antwortet auf die die ungelöste und unlösbare Frage zwischenmenschlicher und religiöser Verfehlung. Das ethische Dilemma dass wir töten müssen, um in der Nahrungskette zu überleben, hat schon in der menschlichen Vorgeschichte Opferrituale hervorgebracht. Hier kann die Abendmahlsfrömmigkeit das Eph Hapax des Heb-räerbriefs betonen als Verweis auf ein grundlegendes, im Himmel vollzogenes Geschehen.
  2. Die Deutung des Opfers Jesu als Victim in Solidarität mit anderen, umgangssprachlich begriffenen Opfern (der Globalisierung, des Verkehrs, sexuellen Missbrauchs etc.) muss aus ethischen Gründen thematisiert, darf jedoch nicht mit den anderen Verständnissen des Opfers vermischt werden. Das Eph Hapax des Hebräerbriefs gehört als Abwehr aktualer Victimisierungen vor allem in die Predigt und in die Ethik.
  3. Die Deutung des Opfers Jesu als Offertium kommt meines Erachtens sehr schön in einer Liturgie der Church of South India zum Ausdruck, die vor wenigen Jahren von der Badischen Landeskirche verteilt wurde: Vor dem Abendmahl findet eine Kollekte statt, die dann gemeinsam mit den Abendmahlselementen und einer Schale Blütenblätter auf den Altar getragen wird. Die Bezüge zur Heilgeschichte über den Palmsonntag hinaus sind in der protestantischen Volksfrömmigkeit weitgehend unterbelichtet. Mit Sigrid Brandt würde ich gern betonen, dass die Lebenshingabe Jesu mit Weihnachten beginnt und in die Neuschöpfung mündet. Die Gemeinde als Offertium spreche ich dankbar an, wenn ich im Abendmahl das „Ihr seid der Leib Christi“ betone und das Kreuz nicht (nur) über den Elementen, sondern über der Gemeinde schlage.

Kultmetaphorik

War die christliche Gemeinde ursprünglich im Haus verortet, so teilt sie dieses Schicksal mit der jüdischen Gemeinde, die sich sowohl im Tempel als auch im Gegenüber zum Tempel organisiert; die Synagoge entstand möglicherweise aus drei oder vier unterschiedlichen Traditi-onen; genannt werden - mit unterschiedlichen Plausibilitäten: das „Haus“, das Tor, die Versammlung der Standmannschaften, der hellenistische Verein. Jede dieser drei Größen hatte eine eigene Funktion, bildete im Lauf der Geschichte einen eigenen Umgang mit dem Kultus aus und bot unterschiedliche Formen kultmetaphorischer Deutung: Nicht nur in Verarbeitung der Ereignisse des Jahres 70 n Chr, sondern schon zuvor, bedingt durch unterschiedliche Dis-tanz zum Jerusalemer Tempel, an dem sich der Gottesdienst zentralisierte, und auf den sich das kultische Denken bezog.

  1. Der Tempel mit dem Schwerpunkt Opfer und der Möglichkeit zu Lehre, persönlichem und öffentlichem Gebet Sowie dem Gesang der Standmannschaften.
  2. Die Synagoge mit den Schwepunkten Thoralesung und Unterweisung und der Möglichkeit zum Öffentlichen Gebet, dem Gesang der Standmannschaften, eventuell auch Mahlfeiern anlässlich besonderer Feste; aber auf jeden Fall: Keine Opfer
  3. Das Haus mit dem regelmäßigen Deipnon/Symposion und der Möglichkiet zu Almosen, Fasten, Beten, Gemeinschaft (1. Kor 11), Thora-Observanz, Unterweisung. Hier fand auf keinen Fall irgend ein Kultus statt.

Mahlfeiern, wie Jesus sie mit seinen Jüngern häufig gefeiert hat, haben ihren Ort im „Haus“; selbst das Passahmahl hat in sich keinen kultischen Charakter, wenngleich dieses Mahl die innigste Verbindung zwischen Kult und Hausfrömmigkeit im Judentum aufwies: Die Lämmer zum Passahfest waren zuvor im Tempel geschlachtet worden. Die Lesung von Thora und Propheten nach einem festen Lesezyklus gehören in die Synagoge, die in Palästina ursprünglich vor allem Ort der Lehre und des Lernens gewesen ist. Zwar überschneiden sich die Funktionen der drei Sozialgestalten; dennoch sind klare Zuordnungen und Ausschlüsse zu beschreiben.

Bei Wegfall des Tempelkults ergeben sich verschiedene Optionen. Das Christentum als jüdische Bewegung hat daran Anteil gehabt:

  1. Der Vollzug des kultischen Tempelopfers wird in eine unbestimmbare Zukunft projiziert („eschatologisch“ oder als Naherwartung „übers Jahr in Jerusalem“)
  2. Die Gemeinde ersetzt kultisches Denken durch ethische Implikationen der Kultkritik.
  3. Kultische Elemente im „Haus“ vermischen sich mit der magisch-sakramentalen Vergegenwärtigung (des Kaisers) beim hellenistischen Symposion.
  4. Elemente der Hausfrömmigkeit tauchen in der (christlichen) Synagoge auf (so etwa das deipnon).
  5. Hausgemeinde und Synagoge bleiben erfolgreich resistent gegen kultischen Vollzug, transformieren diesen jedoch:
    a. zu einem Wortgeschehen
    b. zu einem himmlischen Geschehen
    c. zu einem ethischen Vorgang

Die Metaphorik scheint so stabil gewesen zu sein, dass wir der Annahme folgen müssen, dass diese Bildwelt eine menschliche Grundbefindlichkeit anspricht, die durch nichts zu ersetzen ist. Dies jedoch mit RENÉ GIRARD in einem Urmythos zu begründen, der die Gesellschaft im Opfer konstituiert, scheint mir mit der biblischen Urgeschichte nicht vereinbar. Im christlichen Kultus muss Schöpfung und Neuschöpfung dem Agnus Dei voraus gehen. Das hat Auswirkungen auf die Abendmahlsfrömmigkeit ebenso wie auf das Verständnis des Opfers als Sacrificium, Victim und Offertium.

Freude an der Predigt

„Was könnte Ihnen helfen, mit (mehr) Freude über Texte des Hebräerbriefs zu predigen?“ Ursprünglich eingeführt, um den Teilnehmern der Umfrage eine Fortbildung in Aussicht zu stellen, löst ein zweiter Blick die Frage nach den emotionalen Implikationen der gesamten Umfrage aus: Welche Effekte löst es aus, wenn der Begriff der „Freude“ in den homiletischen Umgang mit biblischen Texten eingeführt wird?
Insgesamt erscheint die Predigtarbeit als ernste Tätigkeit. Selbst Kreativität ist anstrengend: nicht nur beim Hebräerbrief erlebt einer der Exegeten das „Stöhnen über die Begrifflichkeit“. Wenn die Predigt dann anschaulich geworden ist, stellt sich mit dem Gefühl des Gelingens ein - mit Freude immerhin verwandtes - Glück ein.
Es gibt Lieblingstexte im Kanon, die nicht so sperrig sind, und wer sich der Herausforderung stellt, erlebt dass „aus dieser Spannung … Spannendes entstehen“ kann: Mehr als bodenständige „Zufriedenheit“ löst dies eine freudige Erwartung aus.
Diese Beispiele spiegeln die Grundbefindlichkeit der Prediger: Zeitlich überwiegt die harte Arbeit am Text; die Freude am Vortrag des gelungenen Werks hält für den Augenblick. Die Freude des Evangeliums leuchtet aus Gründen des Berufsethos und der kreativen Anstren-gung nur kurz auf und dominiert die berufliche Erfahrung nicht.
Tief im kultischen Sprachgebrauch geerdet ist einer der Prädikanten, der in sich „selbst … genug Freude, die Herausforderungen des Hebräerbriefs anzugehen“ findet, und in dem „sich selbst hingebende(n) Gott in Christus für seine Menschen“ die „großartigste Botschaft“ sieht. Mit einem Aufmerksamkeit heischenden und zu gleich jubelnden Ausrufezeichen endet seine Stellungnahme: „Das ist Liebe pur!“ Eingebettet in die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen erlaubt er sich, emotionale Affekte der Freude anklingen zu lassen. Hier tritt - neben die Glückserfahrung kreativen Ringens und exegetischen Erfolgs - eine theologische Notwendigkeit von Freude, die motivierend den kreativen Prozess von Anfang begleitet.
Die Idee, dass Predigt beim Prediger Lust erzeugt, und die zwanzig Minuten des Predigtvortrags Motivation für eine vorlaufende Anstrengung bieten, habe ich - unter anderen Vorzeichen - neu entdeckt.

Erweiterung der Milieuperspektive

Mit den Milieuforschungen von Schulze und vor allem den Studien des SINUS-Instituts habe ich mich bereits in meiner Magisterarbeit zum Abschluss des EB-Studiums im Jahr 2003 befasst. Dass kirchliches Handeln zwei Drittel unserer Gesellschaft ausblendet und sich im Wesentlichen in drei der elf Milieus wiederfindet, wird sowohl von evangelischer als auch von katholischer Seite mit unterschiedlichen Schlussfolgerungen problematisiert. Milieubeschreibungen dürfen allerdings keine statischen Festlegungen bewirken; sie haben heuristischen Charakter als Orientierungshilfen. Die zunehmende Verarmung im Zuge der Finanzkrise und die schnelllebige Transformation gesellschaftlicher Werte erfordern eine ständige intensive Aktualisierung. Angesichts des damit verbundenen hohen Forschungsauf-wands erscheint mir ein Ergebnis aus den Beobachtungen der Frankfurter Empirischen Theo-logie wichtig:
Da Milieus keine festen Gruppen darstellen, driften die Befragten möglicherweise allein auf Grund der religiösen Fragestellung in ein anderes Milieu. Dass Menschen ihr Sprachspiel und den damit verbundenen Wertekanon spontan verändern, sobald sie auf religiöse Themen angesprochen werden, hat sich in Umfragen zur religiösen Alltagskultur (Empirische Theologie) gezeigt. Professor Lienhardt wies auf eine entsprechende Studie aus Frankreich hin: mit zu-nehmender Kirchen-Distanziertheit werden die Muster konservativer. Auf jeden Fall verän-dern sich die Menschen mit der religiösen Fragestellung der Befragung. Ich ziehe daraus eine doppelte Schlussfolgerung:

  1. Religionssoziologische Befragungen konstruieren möglicherweise ein andere Zusammensetzung, oder sogar ein neues Spektrum gesellschaftlicher Milieus.
  2. Religiös befragt geben die Menschen andersartige Auskünfte; so kommt es im Subjekt zu Divergenzen zwischen religiöser und nichtreligiöser Alltagskultur.

Soziologie als Fremdsprache der Praktischen Theologie

Eine Chance zu einem Intensivkurs in Religionssoziologie ergab sich für zwei Kontaktpfarrer und zwei Studentinnen am Lehrstuhl für Kirchentheorie. Der Dozent Manfred Ferdinand bot eine Übung „Gemeinde wahrnehmen“ an. Die kleine Zahl von Teilnehmenden bewies, dass die Soziologie als Fremdsprache (Lienhardt) der Praktischen Theologie von den Studenten noch kaum wahrgenommen wird. Die Veranstaltung galt als Pilotprojekt für eine künftige universitäre Begleitung des obligatorischen Gemeindepraktikums. Unbeschadet dieser begrüßenswerten Entwicklung bietet Manfred Ferdinand auch weiterhin jedes Semester religionssoziologische Veranstaltungen an: Aus meiner Sicht ein Fortschritt in der gegenwärtigen Theologenausbildung, an dem ich unbedingt teilhaben wollte.
Neben Ansätzen einer kultursoziologischen Transformationstheorie (Wilhelm Gräb) beschäftigte uns die Grounded Theory in der Vermittlung des Religionssoziologen Hubertus Knob-lauch und die Erkenntnisse der Neuen Frankfurter Schule der Theologie (Dinter, Heimbrock, Söderblohm). Zum Einstieg befasste wir uns mit den Ansätzen vorhandener religionssoziologischer Umfragen: Neben der Kinderstudie von World Vision und dem Religionsmonitor von Bertelsmann standen auch die Visitationsfragebögen unserer Kirche und die neusten EKD-Erhebungen am Horizont. Einen Ausblick auf das Forschungsprojekt „Religiöse Erwartungen“ erhalten wir zum Abschluss des Kurses.
Eine willkommene Ergänzung bot schließlich der Hinweis von Professor Lienhardt, der uns im Auswertungsgespräch auf die soziologischen Erklärungsansätze von Detlef Pollack zur besonderen religiösen Lage in Ostdeutschland hinwies: Ein Landstrich, dessen Bevölkerung schon vor der kommunistischen Ära zur Staatskirche auf Distanz gegangen war, in dem das kirchliche Teilnahmeverhalten trotz der Minderheitensituation „volkskirchlich“ distanziert, die Struktur parochial geblieben war, dessen Menschen die Kirche nach der Wende von 1989 zunächst über den Steuerbescheid begegnete, und das - im Unterschied etwa zum katholi-schen Polen und zu Russland - nach der Wende keine Wiederbelebung der Religion erlebt hat. Hoffnungsvoll ist hier lediglich eine kleine Gruppe Jugendlicher und junger Erwachsener (Pollack/Pickel, Religiöser und kirchlicher Wandel, 2000, S. 23) die sich durch hohe Motivation und Partizipationsbereitschaft auszeichnet.

Trinität jenseits von Liberalismus und Dogmatismus

Ursprünglich als Antwort auf die Kritik des Heidelberger Ägyptologen Jan Assmann gedacht war das Thema eines Blockseminars „The Triune God - a God of peace and dialogue?!“ am ökumenischen Institut der Theologischen Fakultät. Jan Assmann projiziert seine Erkenntnis über die Religionsdiktatur Pharao Echnatons auf den hebräischen Monotheismus und in der Folge auf Christentum und Islam. Eine ältere Tradition trinitarischer Theologie versucht im Gegensatz dazu, aus der innertrinitarischen Kommunikation ethische Schlussfolgerungen für das Zwischenmenschliche miteinander zu ziehen. Ich selbst habe dieses Deutungsmuster durch den Basler Systematiker Lochmann kennengelernt, der die These vertrat, Parlamentarische Demokratie sei im trinitarischen Gottesbild verankert. Ich habe allerdings einst beim Studium der Ökumenischen Dogmatik von Edmund Schlinck gelernt, dass die Ableitung „sekundärer Theorien“ aus einer dogmatisch zentralen dogmatischen Einsicht, wie sie die Trinitätslehre darstellt, in die Aporien eines Dogmatismus verfällt, also in die Probleme, die entstehen, wenn man aus einer Theorie eine zweite Theorie, eine „Theorie Zweiter Ordnung“ ableitet.
Grundsätzlich scheint mir das Gespräch über zentrale Fragen wie die der Trinität wichtig für Gemeinde, Predigt und Katechese. In der Pfarrerschaft des Kirchenbezirk Mosbach erlebten wir im vergangenen Jahr, wie Professor Härle das Thema Gemeindeaufbau mit einem Diskurs über die Trinität begann. Das Blockseminar ergab durch seine ökumenische Weite ein breites Spektrum an Einsichten zu diesem Thema. Der katholische Theologe Peter Neuner hielt das Einstiegsreferat und plädierte nicht nur für einen interreligiösen und innerchristlichen, sondern auch einen innerkirchlichen Dialog. Der Baptistische Theologe Uwe Svarat kritisierte den Denkansatz als Neuauflage einer opportunistischen Theologie, die den gesellschaftlichen Diskurs der Moderne nachträglich zu legitimieren sucht. Auch der Redner des abschließenden Hauptreferats, Nicholas Sagovsky, anglikanischer Pfarrer der Westminster-Church in London, nahm die Kritik am Dogmatismus dieses Ansatzes auf.
Aus dem Gespräch zwischen der anglikanischen und der Orthodoxen Kirche in Zypern stammt der Impuls, den Dialog nichts im trinitarisch sondern inkarnatorisch zu begründen. „The Church manifests the trinitarian life and participates in it only by being the body of Christ.” (I-27) Es sei dem Wirken des Heiligen Geistes zu verdanken, wenn sich Eigenschaf-ten Gottes auf die Gemeinschaft der Menschen übertragen.
Am Ende blieb eine Doppelstrategie unvermittelt nebeneinander stehen: Der anglikanische Hauptredner Sagovsky stellte die praktischen Erfahrungen mit tamilischen Flüchtlingen an den Anfang seines Referats als Prüfstein der Theologie; die veranstaltende Heidelberger Pro-fessorin hingegen betonte hingegen die Wichtigkeit theologischer Diskurse unabhängig von ihrem Praxisbezug. Zwei Aspekte, die sich in ihrer Paradoxie - „parallaktisch“ - ergänzen.
Den größten Gewinn zog ich persönlich aus einem der Workshops, in dem ich mich mit ei-nem Aufsatz von Professor Christoph Schwöbel befasste: „Partikularity, Universality and the Religions“. Pluralität und Identität stehen nicht mehr unvermittelt nebeneinander, sondern lassen sich in einem dynamischen Prozess aufeinander beziehen. Das interreligiöse Gespräch in gegenseitigem Respekt ist nur möglich, wenn wir das kritische Gespräch mit den Andern riskieren. Solch eine Kultur des Dialogs ohne Verlust der eigenen Identität stellt den Gewinn des trinitarischen Denkens dar.

Parallelismus

Die parallele Entstehung von Christentum und rabbinischem Judentum
Die Identifikation des Messias mit einer geschichtlichen Persönlichkeit war durchaus eine Option innerhalb des Judentums. Aber mit dieser Identifikation fand innerhalb des Judentums eine derart massive Veränderung statt, dass die neue Richtung Christentum und Judentum als zwei unterschiedliche Wege provozierte. Dies geschah jedoch in einem langsamen Distanzie-rungsprozess der beiden Bewegungen zu zwei selbständigen Religionen.
Professor Martin Poettner berichtet vom Habilitationsprojekt des ehemaligen Heidelbergers David Trobisch, der eine neue Sicht auf die Entstehung des christlichen Kanons erarbeitet hat. Entstanden im letzten Drittel des zweiten Jahrhunderts mit LXX, Evangeliensammlung, Pau-lusbriefen, Praxapostolos und Apokalypse, stellt die Kanonbildung den ersten, nicht revidier-baren Schritt zur Abtrennung vom Judentum dar. Archäologie und Liturgiegeschichte zeigen jedoch - regional unterschiedlich - bis ins vierte Jahrhundert „kreuz und quer verlaufenden Linien“ - so der Titel einer Relektüre des jüdischen Religionsphilosophen DAVID BOYARIN aus den USA - gegenseitiger Beeinflussung auf.
Die Rede von Auferstehung und die Identifikation des Messias sind als gegensätzliche Optio-nen in der gemeinsamen Wurzel des jüdischen Kanons begründet. Die Methode der „dynami-schen Schriftauslegung“, im Judentum entwickelt und vom Christentum übernommen, inter-pretiert die Heiligen Schriften bezogen auf die jeweils gegenwärtige Gotteserfahrung von In-dividuum und Gemeinde und setzt aus dieser Perspektive auch Schwerpunkte in den Heiligen Schriften; das Thema eines (flexiblen) Kanons im Kanon ist im Judentum bereits vorgegeben.
Offensichtlich handelt es sich nicht um eine Außenseiterposition; Kommilitonen berichten, dass diese These auch in der Vorlesung über die Alte Kirche aufgenommen wird. Genannt wird neben DAVID BOYARIN der Heidelberger Judaist AHARON AGUS. Nicht die Konstantini-sche Wende ist das einschneidende Datum, sondern die Erhebung des Christentums zu Staatskirche durch Kaiser Theodotius im Jahr 380 stellt die endgültige Trennung dar. Für das Verhältnis der beiden Religionen von Christen und Juden bedeutet dies, dass
  1. eine wesentlich längere Zeit von gegenseitiger Beeinflussung und gegenläufiger Ab-grenzung angenommen werden muss.
  2. In seiner rabbinischen Ausprägung ist das Judentum nicht die Mutterreligion, sondern eine Schwesterreligion der christlichen.
  3. Die Tradition der Schriftauslegung ist in beiden Religionen außerordentlich flexibel und offen sowohl für Erfahrung als auch für neue Theorie.
  4. Der Hebräerbrief als christliche Homilie hat seinen liturgischen Ort in einer Leseord-nung, die sich als christliche an die synagogale anlehnt, als Homilie zu Tischa-be Aw.

Parallaxe

Neue Philosophische Ansätze am Horizont der Theologie
Parallaxe ist das Zauberwort, mit dem Slavoj Žižek durch die Geschichte des Geistes und der Theologie zieht. Das Buch erhielt ich kurz vor Beginn des Kontakstudiums und werde es noch weiter lesen. Hier begegnet mir ein philosophischer Ansatz, der die wertvollsten Denk-bemühungen des Christentums auswertet und mit einem neuen Modell der Paradoxie er-schließt. Slavoj Žižek ist einer der vier Denker, der sich - neben Badiou, Agamben und ande-ren mit der Theologie des Apostels Paulus auseinandersetzt. Ich fand es anregend, dass Professor Schwier an der Universität Heidelberg auf diese modernen Ansätze aufmerksam macht.
Fasziniert bin ich davon, dass Žižek Denktraditionen aufnimmt, die ich bisher eher für kon-servativ hielt - zudem mit einem erstaunlichen philosophischen und theologischen Humor. Platons Höhlengleichnis transformiert er in eine Welt aus lauter solcher Höhlen: „der wahre Mythos ist gerade die Vorstellung, dass es außerhalb des Schattentheaters so etwas wie eine ‚wahre Realität’ oder zentrale Sonne gäbe“ (133). Die Absurdität des Atheismus schildert er mit der anekdotischen Fiktion, Nietzsche ergänze seinen Satz „Gott ist tot“ mit der Bemer-kung „Und übrigens, mir geht es auch nicht so gut…“. (116) Erlösung denkt er als „die christ-liche Kommödie … dass ein transzendeter Gott ein glückliches Ende garantiert.“ (117) Ange-sichts der Shoah reflektiert er die Banalität eines moralistischen Gottesbildes (118) und der Theorie der göttlichen Selbstbeschränkung (119) stellt er den leidenden Gott gegenüber als Ausdruck „eines Kampfes, in den das Absolute selbst verwickelt ist“ (121). Mit der Philoso-phie des dialektischen Materialismus stellt sich Žižek die Aufgabe, „den Grund der Spaltung von Gut und Böse in Gott selbst anzusiedeln und dabei dennoch im Feld des Monotheismus zu bleiben“ (120).
„Die allgemeine Definition der Parallaxe lautet: die scheinbare Verschiebung eines Objekts .. durch einen Wechsel der Beobachterposition, der eine neue Sichtlinie schafft.“ (21) Žižek beschreibt das Phänomen als einen „Tic“, der zwischen zwei gegensätzlich erschei-nenden Denkbewegungen steht und diese in der gegebenen Paradoxie zusammenhält. Menschliche, christliche Freiheit kann nur in der Bestimmung durch Natur, Trieb oder Vorse-hung sein, Sünde und Erlösung, Gesetz und Evangelium, ja gar theologisch zentrale Abstrak-tionen wie die Zweinaturenlehre (und die Trinität) können nur in ihrer scheinbar widersprüch-lichen Doppelung stehen bleiben.

24 Juni 2009

Transzendenz - Geschichte - Existenz - Gemeinschaft - Kreativität

Die protestantische Orthodoxie entwickelte im Nachklang zur Reformation die Lehre von den fünf Affectiones (sinnlich begreifbaren, inneren Bewegungen) der Heiligen Schrift: Auctoritas („Urheberschaft“), Necessitas („Innere Notwendigkeit“), Claritas/Efficacia („Dursichtigkeit/Wirkmächtigkeit“), Sufficentia („Hinlänglichkeit“) und Perfectio („Vollkommenheit“). Letztere entwickelte sich in der spätorthodoxen Theologie gemeinsam mit der Anschauung von der Verbalinspiration zur Lehre von der Irrtumslosigkeit; ein rationalistisch historisierender Zug in der Hermeneutik, der den Großmeister vor letzterem zurückschrecken lässt und ihn veranlasst, auf die Tradition des drei- bzw. vierfachen Schriftsinns der Antike und des Mittelalters zurückzugreifen.

Die Hermeneutik Theissens verläuft dementsprechend auch in einem Viertakt: Er beschreibt
  1. die kerygmatische Dimension der Heiligen Schrift in Analogie zur AUCTORITAS SCRIPTURAE, anhand der dialektisch-theologischen Impulse des 20. Jahrhunderts und ihrer Transformation durch die kerygmatische Exegese, dargestellt an der Gleichnistheorie von Hans Weder.
  2. die geschichtliche Dimension der Heiligen Schrift in Analogie zur NECESSITAS SCRIPTURAE, anhand der heilsgeschichtlichen Theologie Oscar Cullmanns und - vor allem - Wolfhart Pannenbergs.
  3. die existenzielle Dimension der Heiligen Schrift in Analogie zur CLARITAS (EFFICACIA) SCRIPTURAE, anhand - zunächst - der existenzialen Interpretation Rudolf Bultmanns, dann der Ritualhermeneutik, einer biblischen Ethik, und schließlich dem Story-Konzept.
  4. die kanonische Dimension der Heiligen Schrift in Analogie zur SUFFICIENTIA SCRIPTURAE, anhand des Canonical Approach (B.S.Childs, J.A.Sanders) und Ansätzen der kognitiven Religionswissenschaft (Boyer, Whitehouse,Pyssäinen) vermittelt in Heidelberg durch Istvan Czachesz.

Der neue vierfache Schriftsinn Theissens - von mir, analog zu den von ihm aufgenommenen fünf affectiones scripturae - durch einen fünften ergänzt, wendet sich wieder neu dem wörtlichen Sinn der altkirchlichen Hermeneutik zu und versucht diesem neue Gehalte abzugewinnen. Die vier (oder fünf) Dimensionen, im menschlichen Subjekt verankert, sind Dimensionen menschlicher Wahrnehmung. Nicht eine Intentionalität, die als unmittelbare in den Dingen verankert wird, wie in Antike und Mittelalter. Die Kernfrage, die sich für mich damit stellt: Wie kommen wir über diese Intentionalität des menschlichen Subjekts hinaus?

Wurden im Mittelalter den Dingen eine mehrfache Intentionalität zugestanden, die der „alte“ vierfache Schriftsinn zu erheben suchte, so hat sich die reformatorische Exegese mit ihrer Wendung zum historischen Schriftsinn diese Intentionalität der Dinge methodisch ignoriert und das Subjekt zur Res Agens umgeschafft. Dennoch bleibt im nachhaltigen Gebrauch des Begriffs des Sub-Jectum eine Erinnerung daran, dass dieses Agens per Definitionem nicht Auctor sein kann, sondern der Aktion des Wortes subjiziert.

Und so entsteht die für mich entscheidende Frage: Wie geht mich das Wort, mit den von ihm bezeugten Dingen an? Was löst es in den Empfängern des Wortes aus? Welche Dimensionen trägt es an die Subjekte heran? Dazu gehören ebenso die Dimensionen von Glaube, Liebe und Hoffnung, wie jene - neueren - von Existenz, Gemeinschaft und Kreativität; wobei die Dimension des Glaubens nicht im Existenzbezug alleine aufgeht, sondern Momente eines Diskurs überschreitenden Transzendenzbezugs in sich trägt; und für die Moderne grundsätzlich Wahrheit historisch vermittelt ist, allerdings - so haben wir bei Gadamer gelernt - nicht allein über den garstigen Graben hinweg springend, sondern durchaus auch in der Verschmelzung menschlicher Erfahrungen über die Zeitsprünge hinweg. Dann können kabbalistische Spekulationen einbezogen werden, wenn sie für die Verständigung nützlich sind; für den Hebräerbrief vor allem die im Kanon begründete Merkabah-Mystik, für andere Texte die Apokalyptik, aber auch neuere, mystagogische (zum Beispiel tiefenpsychologische) Auslegungstraditionen, welche die Dimensionen von "Glaube, Hoffnung und Liebe" eröffnen.

Ich glaube, dass - durch die Filter von Historie und emanzipierter Moderne hindurch - der fünfte, kreative Schriftsinn es durchaus ermöglicht, Dimensionen des antiken, mehrfachen Schriftsinnes wieder aufzunehmen. Die Vollkommenheit der Schrift kann, von ihrer rationalistischen Engführung in einem historisierenden Fundamentalismus gelöst, im Blick auf die Vielfalt der Gattungen neu aufgenommen werden. Unter dem Vorzeichen des Dritten Artikels ist Inspiration in 2. Timotheus 3, 16 transitiv zu verstehen und homiletisch aufzunehmen: Dann bewirkt Wort Gottes die Predigt des Wortes Gottes, und diese wiederum ist - wie man im Anschluss an das Zweite Helvetische Bekenntnis formulieren mag - das Wort Gottes, weil sie vom Geist der Schrift inspiriert ist.

So kommt das Wort der Schrift als Agens ihrem Auctor Gott nahe, indem es in unserem menschlichen Subjektum unter Aufnahme früher gedachter Anregungen neue Schöpfungen bewirkt: sprachlich, und doch wohl auch lebenspraktisch.

23 Juni 2009

Der Zwölfjährige Hohepriester

Bei meinen Recherchen in der Heidelberger Predigtforschungsstelle stieß ich auf die Darstellung des Zwölfjährigen Jesus als sitzender Gelehrter. Sie findet sich als Relief an der Kanzel der Schlosskirche von Torgau, jener Kirche, die 1544 von Martin Luther als erste reformatori-sche Kirche eingeweiht worden ist - die Kirchweihpredigt Luthers ist in der Liturgiegeschich-te bekannt; das Kanzelrelief weniger: Fritz Thum hat es im homiletisch-liturgischen Korres-pondenzblatt NF 51/1996 aufgenommen in einer Predigt zu Hebräer 8 als Ausdruck genuin protestantischer Schriftfrömmigkeit und Illustration der Kirchweihpredigt Luthers, dass diese Kirche mit dem rechten Weihwasser besprengt werde, nämlich mit dem Worte Gottes und dem Räucherfass des Gebets. „Der erhöhte Christus rettet seine Kirche vor dem Sündenfall der Banalität“ - so möchte ich die Predigt des Torgauer Kanzelreliefs umschreiben. Der Pre-diger, der diese Kanzel besteigt, wird stets daran erinnert, dass Jesus der wahre Lehrer der Kirche ist, und durch seine Lehrtätigkeit göttliche Autorität und Versöhnung übt, innere Reli-gionskritik übt und Heil für Seele und Leib. Dieser Aspekt kommt in den Seitenbildern zum Ausdruck: Die Begnadigung der Ehebrecherin mit dem Verweis Jesu auf den Sinn des ge-schriebenen Wortes (er schreibt in den Sand, im Hintergrund die Tafeln des Dekalogs); die Reinigung des Vorhofs, um den Zugang zum Allerheiligsten neu zu eröffnen (im Hintergrund die eherne Schlange als Gleichnis für den am Kreuz erhöhten Christus).

02 Juni 2009

Haus

"Hauskreise versammeln sich in häuslichem Rahmen als informelle Gruppe mit einer recht stabilen Zahl von Teilnehmern und zwar in einem dichten zeitlichen Rhythmus on ein oder zwei Wochen. Sie pflegen mit Singen, Beten, gemeinsamem Lesen biblischer Texte und Aussprache darüber ein eigenständiges Ritual, das bei aller Verschiedenheit deutlich an gottesdienstliche Vorbilder der evangelischen Kirche oder protestantischer Freikirchen angelehnt ist."
(Richard Reininghaus, Die hausgemachte Religion. Kommunikation und
Identitätsarbeit in Hauskreisen, Tübingen, 2009, S. 207).

Eine funktionale Definition von Religion lässt Hauskreise verstehen als Orte lebendigen, persönlichen Suchens nach einer christlichen Identität. So beschreibt es Richard Reiningheus in seiner Dissertation. Er hat als ehemaliger Dekan im Ruhestand württembergische Hauskreise mit religionssoziologischen Mitteln untersucht, greift ausführlich auf die ansätze von Hubert Knoblauch und anderen zurück, und bringt dem Phänomen schließlich eine große, wenngleich kritische Sympathie entgegen.

Als Kreise sind sie grundsätzlich abgeschlossen, befassen sich jedoch in der Regel mit einem außerhalb ihrer Spiritualität befindlichen „Extra Nos“ eines Textes - manchmal auch eines Themas. Bei aller - geschichtliche gewordenen (Hauskreise entstanden ursprünglich im Rahmend er evangelischen Akademikerschaft) - spirituellen Einseitigkeit, und trotz der Marginalität seiner Erscheinungsweise (321) kann dieses Phänomen zu einem Faktor der Belebung von Kirche um Umbruch werden. Es darf allerdings nicht im Interesse pastoraler Macht marginalisiert oder durch religiöse Rationalisierung ins Häretische abgedrängt werden (319)!

Potentiell haben Hauskreise Anteil an dem, was die Aufklärung mit dem „Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“ intendiert hat. Diese Rolle ist erst noch zu evaluieren. Reininghaus wehrt sich gegen eine schnelle Identifikation von Hauskreisen mit den Hausgemeinden der Urchristen (226f; er spricht hier mit Johannes Zimmermann, Habil. Greifswald 2006, von „Urchristentumsromantik“) wie mit der anachronistischen Gleichsetzung mit der bürgerlichen Familie (227). Sie sind eine Schule des Denkens und des Diskutierens, erlauben gerade in einer ausgeprägten Gesprächkultur die in der Moderne so sinnvolle Tendenz zur Häresie (Luhmann) und sind grundsätzlich als Schule der Emanzipation zu verstehen, wenngleich sie sich nicht kirchlich vereinnahmen lassen.

Die Frage, ob Hauskreise Abendmahl feiern, wurde von der Württembergischen Synode im Juli 2005 negativ beschieden; sie bleibt jedoch in der Praxis offen (170).

28 Mai 2009

Religiöser Kosmos

Theissen vermittelt in seiner Hermeneutik-Vorlesung so etwas wie einen theologischen Kosmos. Von der reinen Information über sein Thema ausgehend führt er durch seine assoziativen Einsprengsel zu persönlichen Glaubensüberzeugungen, und vor allem seine Bewertungen dargestellter Positionen, zu Basics theologischer und pastoraler Existenz.

Crucifixus

Von zwei Seiten erweist sich das Kreuz als ein abstraktes Zeichen. Vom Christlichen aus betrachtet ist es das Zeichen für die inneren Vorgänge um die Kreuzigung, vom Jüdischen aus das Bild einer Lücke, einer noch nicht vollzogenen Versöhnung des jüdischen Volkes mit seinem Gott durch den Messias. Es sind vier Aspekte, die eine sachliche Identität von Thron und Kreuz begründen:

  • Man bildet das jüdische Königtum infolge seines Scheiterns in eine Theokratie um und formt den königlichen Thron Salomos zum Kreuz; indem man den bildlosen Gott annimmt und die bildhafte Struktur des Salomonischen Throns im Kreuz zur Unkenntlichkeit deformiert, nimmt man das Kreuz als zeichen dafür, dass die Aussöhnung noch nicht stattgefunden hat.
  • Christus ist König, der neue Salomo, aber er ist den Christen König, nicht den Juden; de semiotische Aspekt verweist auf die Gleichheit von Kreuz und Thron, indem sich Kreuz und Thron zeichenhaft ineinander umformen lassen; im Zeichen des Kreuzes verknoten sich die inneren Vorgänge um die Kreuzigung.
  • Christus stirbt nicht am Kreuz um sich in den Himmel zurückzuziehen, sondern um eine neue Religion zu stiften und für immer zu bleiben. ER stirbt, um mit den Tugenden der Liebe, des Gehorsams und der Duldsamkeit den Leib zu überwinden, den Menschen zu erhöhen und mit Gott auszusöhnen. Die Versöhnung besteht darin, dass der Sohn göttlicher Vater und Mensch zugleich ist und am Kreuz die Schuld auf sich nimmt und tilgt.
  • In der Form des Kreuzes ist der Stuhl ein Zeichen für die Anwesenheit wie die Abwesenheit des Messias, das Zeichen für die Negation eines paradiesischen Seins der Juden. Den Christen gibt das Kreuz eine Identität und söhnt sie mit dem Vater aus, so dass mit dem Beginn des Christentums der Weg geebnet ist, die Herrschaft Gottes auf den Menschen zu übertragen. Das Mittel zu dieser Übertragung ist der Thron in der Form des Kreuzes.

So erweist sich da Kreuz Christi als die zweite von Menschenhand geformte Gestalt auf der Suche nach einem dem Menschen angemessenen Stuhl. Es formt sich auf der Schwelle zwischen den beiden Paradiesen von Genesis und Apokalypse und wird der Umschlagpunkt, an dem den Christen das Göttliche ins Menschliche drängt. Im Kreuz erlangt das Sitzen seine abstrakteste, der Thron seine unerträglichste Gestalt.

(Hajo Eickhoff, Himmelsthron und Schaukelstuhl. Die Geschichte des Sitzens, München: Hanser 1993, S. 6667)

Eine Sicht, die stark von einem religiösen Entwicklungsdenken ausgeht und ein Selbstbewusstsein pflegt, das sich als Christliches dem Jüdischen überlegen sieht. Mithin ein überraschender Blick auf das Kreuz als minimalisierter Thron, insofern ein kulturkritischer Impuls auf bürgerliches Hocken ebenso wie auf elitäres Thronen.

Ob Eickhoff als christlicher Denker gelten kann, oder nicht vielmehr aus einer vom Buddhismus o.ä. inspirierten Religionsphilosophie heraus Kulturgeschichte betreibt, sei noch zu überprüfen.

Sedativum

Sitzen ist Schwerarbeit. Seine Auswirkungen: Verfestigung der Skelettmuskulatur, reduzierte und geformte Atmung und Neuordnung der sinne zueinander. Der Stuhl fasst dabei den Sitzenden ein, legt sich wie eine Schablone auf das Vegetative und schneidet so die Physis, dass Funktionen geformt und gehemmt werden.

Das Umformen der Körperlast auf das Gesäß entlastet die Beinmuskulatur, schwächt sie aber zugleich und greift in funktionelle Zusammenhänge der Skelettmuskeln ein. Da das Sitzen die Gesäßmuskulatur chronisch verspannt und die Bein- und Rückenmuskeln schwächt, lässt sich der menschliche Lei nicht mehr dynamisch von unten nach oben aufbauen: Das Becken verliert seine stabilität auf den Hüftgelenken, die Wirbelsäule ihre Elastizität auf dem Becken, und der kopf ruht nicht mehr gut balanciert auf dem Atlas. Der Homo sedens verliert im Stehen seinen Halt und erlebt Sitzen zunehmend als Bedürfnis.

(Hajo Eickhoff, Himmelsthron und Schaukelstuhl. Die Geschichte des Sitzens, München: Hanser 1993, S. 156157)

14 April 2009

versteh...

Manfred Oeming wurde uns empfohlen: Verstehenslehre der Bibel.
Eine große Erweiterung der Einsicht. Siebzehn verschiedene Zugänge von der historisch-kritischen Exegese bis zur Existentialen Interpretation listet er auf. Ein paar spannende Zugänge zum vorhandenen Text, auch C.S.Childs lässt er Gerechtigkeit widerfahren. Sogar ein Kapitel über fundamentalistische Bibelauslegung mit liebevoll distanziertem Blick. Er findet es bedenklich in Pfarrkonvente zu kommen, in denen der historischen Tiefendimension überhaupt keine Beachtung mehr geschenkt wird. Auf keine der Methoden möchte er verzichten, wenngleich er nahezu bei jedem Zugang ein kritisches Fündlein findet.

Ich verstehe, dass er gern in IDEA Spektrum zitiert wird: Vor allem den kritischen Zugängen begegnet er mit Ideologieverdacht: die Befreiungstheologen ordnet er in einen westeuropäisch(-dekadent?)en Zusammenhang ein; Marxistische Anleihen kann er vom ideologischen Hintergrund dezidiert nicht trennen. Immerhin die Existenz der Junia als Apostelin scheint ihm als feministisches Fündlein festzustehen. Und Bibliodrama hat er offensichtlich selbst schon praktiziert.

Die Auswahl der Methode orientiert sich am Charakter des Textes, an der Person des Auslegers, aber auch an der Anwendungssituation: eine historisch-kritische Vorlesung mit Textkritik ist im Kindergottesdienst evident unangemessen; umgekehrt ist eine Erzählung für den Kindergottesdienst im Hörsaal deplatziert. Ob Theißen mit seinem "Schatten des Galiläers" wohl jemals im Hörsaal war?

sinnvoll erscheint es mir, diachrone von synchronen Wegen zu unterscheiden. Diachron sind jene Methoden, die quer zur Zeitgeschichte stehen und den Text in seiner historischen Entstehung wahrnehmen; synchron dagegen wird der Text in seiner Endgestalt wahrgenommen, seine Sprachgewalt neu erschlossen.

informativ ist die vorsichtige Einschätzung archäologischer Zugänge: archäologische Zeugnisse und altorientalische Bilder sind in den seltensten Fällen eindeutig, sondern zumeist stark interpretationsbedürftig (61). Folglich darf man sich zur Rekonstruktion der Welt der Autoren nicht wirklich von den Texten lösen (62).

zentral erscheint mir seine viergliedrige Ordnung der Verstehensmethoden:

  1. Orientierung an den Autoren und ihren Welten (historisch, sozialgeschichtlich, archäologisch)
  2. Orientierung an den Texten und ihren Welten (linguistisch, kanonisch, existential)
  3. Orientierung an den Rezipienten und ihren Welten (wirkungsgeschichtlich, tiefenpsychologisch, symbolisch, feministisch und befreiungstheologisch)
  4. Orientierung an den Sachen und ihren Welten (dogmatisch, fundamentalistisch, existential)

beim ersten Lesen irritierend: Die Entscheidung des Verlags, das Litertaurverzeichnis zu kürzen: So wir dim Text ein Buch von D.Zillesen erwähnt, das man erst findet, wenn man auf der Homepage der Universität das versprochene ausführlichere Literaturverzeichnis aufruft. Nu ja: Internet lässt grüßen :)

09 April 2009

Dynamische Bibel

Der Jude Aharon Agus wird angeführt. Er habe die neue Sicht ins Buch gefasst:
Nicht ist das Neue Testament eine Fortschreibung des Alten, noch eine Auslegung mit dem Anspruch, Kombinationen 1:1 zusammen zu führen. Vielmehr ist schon im Judentum eine Form der Schriftauslegung gepflegt worden, die sich dann in christlicher Zeit fortsetzt: Dynamische Schriftauslegung.

Das ist eine lebendige und lebensnahe Deutung von Gotteserfahrungen auf dem Hintergrund bereits schriftlich festgehaltener Früherer. Aber nicht nach dem Motto: „damals wurde etwas versprochen - jetzt wird es eingelöst“, sondern so, dass die alten Worte durch die neue Erfahrung anders geordnet, neu bezogen und zusammengestellt werden. Es entstehen stets neue Deutungen aus dem Alten heraus, von ihm mit Worten ausgestattet, aber in vollkommen neuer Gestalt. Klar: was heute passiert, ist ja noch nie dagewesen.

Es war noch nie dagewesen, dass einer im Judentum als Träger von Sünde wahrgenommen wurde. Im Grunde auch für das positive Gottesbild unerträglich: dass da Einer ins Totenreich hinab fährt, in die Verbannung der Unkenntlichkeit, geschlagen und gezeichnet mit allen Zeichen eines Geächteten; und dennoch bleib Gott ihm nah. Dynamische Schriftauslegung zur Zeit des Jesaja.

Es war eigentlich unvorstellbar, dass Gott sein Volk so der Fremdherrschaft ausliefert, wie zur Zeit der Assyrer, Griechen und Römer. Daniel erkennt dies als politische Katastrophe und hofft politisch auf den „Menschensohn“; der Psalmist betet ein persönliches, individuelles Gebet, und prägt dort die Erwartung eines Heilandes.

Es war noch nie dagewesen, dass Einer im Judentum als Gegenwart Gottes erfahren wird; jetzt haben sie es erfahren. So entstand die christliche Deutungsgemeinschaft: völlig legitim innerhalb des Judentums. Erst später wurde sie zur eigenen Religion ausgesondert; aber immer mit dem Nimbus einer größeren, besonderen Nähe zur jüdischen Mutter.

Pfingsten als genuin jüdische Gotteserfahrung, insofern die damit verbundene Irritation des strengen Monotheismus integral und genuin im Duktus jüdischer Überlieferung liegt. Das Neue Testament als eine Variante des Talmud. Jesus als politische und individuelle Erfüllung einer politischen und privaten Hoffnung, die im Judentum vorgespurt war; und eben nicht die individualistische Zuspitzung eines zuvor rein völkisch ausgerichteten Religionssystems.

Neuer Jesus

Da gibt es ein neues Bild von Jesus. Er ist nicht mehr der held des Individualismus, der dem Kollektivismus trotzt und gegen das Gesetz opponiert. Evangelium ist, dass Jesus gekommen ist, nicht aber dass er den einzelnen ins Zentrum setzt.

Die Individualisierung der Religiösen Frage fand sich schon im Judentum. Und zwar parallel zur geschichtlichen Hoffnungslosigkeit. Dort die Erfahrung, dass gegen Perser, Griechen und schließlich die römische Besatzungsmacht keine Hoffnung zu erwarten sei; hier das Scheitern des Einzelnen angesichts des Textes. Beides spiegelt sich in jüdischen Quellen: Das Politische eher in der Apokalyptik; das Individuelle eher in solchem Liedgut wie den Psalmen Salomonis. Die Erwartung eines Messias, der in beiden Sphären "Erlösung" bringt, wurde so im Judentum herausgeprägt.

Das Neue ist die Deutung der Begegnung mit der Person Jesus als eben diese Gotteserfahrung. Das Christentum ist insofern noch voll und ganz jüdische Auslegungstradition, als es dort durchaus üblich war, die Schrift im Licht neuer Gotteserfahrung neu zu deuten. Aber mit dieser Identifikation fand innerhalb des Judentums eine derart massive Veränderung statt, dass die neue Richtung abgespalten worden ist. Die Entstehung des Christentums als genuin jüdischer Vorgang? - spannend

31 März 2009

Inszenierung

Michael Meyer-Blanck nennt sein Essay über den Gottesdienst INSZENIERUNG DES EVANGELIUMS. Bei "Inszenierung" denken wir unwillkürlich an etwas Vorgespieltes, Unechtes, zur Schau Gestelltes. Stimmen aus dem Kreis der Prediger, aber auch Gottesdienstbesucher aus der Kerngemeinde äußern die Befürchtung, mit "Inszenierung" sei etwas Spektakuläres gemeint.

Dagegen wehrt sich Meyer-Blank ausdrücklich. Ihm geht es darum, aus der großen Vielfalt möglicher Verhaltensweisen eine bewusste Auswahl zu treffen, und diese dann aber auch bewusst und angemessen zu gestalten. Er bearbeitet in der Folge die "üblichen" Teile des Gottesdienstes; Experimente in einem "Zweiten" oder "Dritten Programm" werden lediglich beiläufig erwähnt.

"Beim Gottesdienst gibt es keine Trennung zwische Bühne und Zuschauerraum." (19) Das unterscheidet ihn von einem Theaterstück. Die ganze Gemeinde spielt in der Inszenierung mit, selbst wenn sie nur zuhört, kann sie doch nicht als Akteur außer Acht gelassen werden. Ist es das, was den verfechtern des Predigtgottesdienstes so Schwierigkeiten macht? Dass sie nicht als Einzelkämpfer vorn stehen dürfen, sondern die Gemeinde mitzunehmen angehalten sind?

Meyer-Blanck plädiert für eine gute Predigt, allerdings in den liturgischen Vollzug eingebettet: Er wendet sich bereits gegen eine Trennung von Predigt und Liturgie. Und den protestantischen Impuls sieht er darin, dass der Vollzug des Rituals immer zugleich mit reflektiert wird. Er betont eine reflektierende Note, gegen ein magisch verstandenes Ritual.

Die Inszenierung wird bei ihm nicht schematisch formuliert; hier denkt er den Ansatz von Felix Ritter voraus, der unsere gottesdienstliche Arbeit im Kirchenbezirk Mosbach mit begleiten wird: "Der Weg zur eigenen Theologie führt nur über das eigenständige Durchdenken, ebenso führt der Weg zum angemessenen liturgischen Agieren nur über das eigenständige Durchleben körperlicher Haltungen, wie sie auch im Gottesdienst vorkommen." (27)

27 März 2009

Lange haben wir das Lauschen verlernt!
Hatte Er uns gepflanzt einst zu lauschen
Wie Dünengras gepflanzt, am ewigen Meer,
Wollten wir wachsen auf feisten Triften,
Wie Salat im Hausgarten stehn.
Wenn wir auch Geschäfte haben,
Die weit fort führen
Von Seinem Licht,
Wenn wir auch das Wasser aus Röhren trinken,
Und es erst sterbend naht
Unserem ewig dürstenden Mund –
Wenn wir auch auf einer Straße schreiten,
Darunter die Erde zum Schweigen gebracht wurde
Von einem Pflaster,
Verkaufen dürfen wir nicht unser Ohr,
O, nicht unser Ohr dürfen wir verkaufen.
Auch auf dem Markte,
Im Errechnen des Staubes,
Tat manch einer schnell einen Sprung
Auf der Sehnsucht Seil,
Weil er etwas hörte,
Aus dem Staube heraus tat er den Sprung
Und sättigte sein Ohr.
Presst, o presst an der Zerstörung Tag
An die Erde das lauschende Ohr,
Und ihr werdet hören, durch den Schlaf hindurch
Werdet ihr hören
Wie im Tode
Das Leben beginnt. (Nelly Sachs)


Ein wunderschöndes Gedicht
Gestern erlernt
Hören heischend

Nur der Schluss befremdet mich
als wäre
der Sinn von Religion
auf Todesbewältigung beschränkt

ich läse lieber:

wie im Leben
Tod erfahrend
Leben neu du gewinnst

21 März 2009

Den Hohenpriester Jesus kenne ich aus meine Kindheit. Unser Pastor sprach regelmäßig das Wort vom „großen Hirten der Schafe“ (Heb. 13, 20) zur Verabschiedung der Gemeinde. Nach dem Abendmahl sangen wir Offenbarung 1, 5-6 in der Vertonung von Julius Löwen: „Dem der uns liebt und uns von unsern Sünden gewaschen hat in seinem Blut und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater.“

In meinem theologischen Studium erlebte ich eine Abspaltung dieser Bildwelt. Ich las davon, dass kultisches Denken schon bei Irenäus einen Rückfall in einen vorchristlichen Status darstellt, gleichzeitig aber erlebte und las ich pietistische Predigten, die mit Nachdruck auf die Beutung des blutigen Opfers Jesu hinwiesen. Schnell wachsenden pfingstlich-cha­ris­ma­ti­schen Kirchen halten weltweit an Einsichten fest, die die universitäre Exegese überwunden zu haben meint. Derart auseinanderklaffende Denkwelten auszustehen, lernte ich durch den Deutungsmusteransatz in der Erwachsenenbildung.

Sigrid Brandt spricht in ihrer Heidelberger Habilitationsschrift von 2001 von einer modernen Konstruktion des Opferdenkens durch die Mediengesellschaft: „Die Vermittlung und der Konsum von Opferbildern erfüllt … kultische Funktionen“, laden sie konsumerisch und religiös auf „und sei es nur im Spiel“. Sie setzt dem die Rede von der Liebe Gottes entgegen und unterscheidet (mit Paulus) zwischen Opfer als sacrifice und Opfer als victim: „Das ‚Opfer’ Christi meint nicht in erster Linie Jesu Victimisierung, sondern seine leibliche (Verkündigungs-)Existenz für den Glauben der Menschen.“ (13)

Sie stützt sich zentral auf den Hebräerbrief und versteht unter dem Opfer Christi den ganzen Lebensprozess, der mit Weihnachten beginnt, seine gesamte irdische Existenz umgreift, und sich mit der „hohepriesterlichen“ Eingang in das Himmlische Heiligtum vollendet. Das Leben Jesu wird so „zum Kommunikationsorgan des befreienden Geistes Gottes“(440) Opfer bringen „überwiegend den heilvollen Zusammenhang (1) des Lebens der Menschen aus, durch und für Gott und (2) des „Lebens“ Gottes bzw. seines Namens aus, durch und für die Menschen zur Sprache.“