24 Juni 2009

Transzendenz - Geschichte - Existenz - Gemeinschaft - Kreativität

Die protestantische Orthodoxie entwickelte im Nachklang zur Reformation die Lehre von den fünf Affectiones (sinnlich begreifbaren, inneren Bewegungen) der Heiligen Schrift: Auctoritas („Urheberschaft“), Necessitas („Innere Notwendigkeit“), Claritas/Efficacia („Dursichtigkeit/Wirkmächtigkeit“), Sufficentia („Hinlänglichkeit“) und Perfectio („Vollkommenheit“). Letztere entwickelte sich in der spätorthodoxen Theologie gemeinsam mit der Anschauung von der Verbalinspiration zur Lehre von der Irrtumslosigkeit; ein rationalistisch historisierender Zug in der Hermeneutik, der den Großmeister vor letzterem zurückschrecken lässt und ihn veranlasst, auf die Tradition des drei- bzw. vierfachen Schriftsinns der Antike und des Mittelalters zurückzugreifen.

Die Hermeneutik Theissens verläuft dementsprechend auch in einem Viertakt: Er beschreibt
  1. die kerygmatische Dimension der Heiligen Schrift in Analogie zur AUCTORITAS SCRIPTURAE, anhand der dialektisch-theologischen Impulse des 20. Jahrhunderts und ihrer Transformation durch die kerygmatische Exegese, dargestellt an der Gleichnistheorie von Hans Weder.
  2. die geschichtliche Dimension der Heiligen Schrift in Analogie zur NECESSITAS SCRIPTURAE, anhand der heilsgeschichtlichen Theologie Oscar Cullmanns und - vor allem - Wolfhart Pannenbergs.
  3. die existenzielle Dimension der Heiligen Schrift in Analogie zur CLARITAS (EFFICACIA) SCRIPTURAE, anhand - zunächst - der existenzialen Interpretation Rudolf Bultmanns, dann der Ritualhermeneutik, einer biblischen Ethik, und schließlich dem Story-Konzept.
  4. die kanonische Dimension der Heiligen Schrift in Analogie zur SUFFICIENTIA SCRIPTURAE, anhand des Canonical Approach (B.S.Childs, J.A.Sanders) und Ansätzen der kognitiven Religionswissenschaft (Boyer, Whitehouse,Pyssäinen) vermittelt in Heidelberg durch Istvan Czachesz.

Der neue vierfache Schriftsinn Theissens - von mir, analog zu den von ihm aufgenommenen fünf affectiones scripturae - durch einen fünften ergänzt, wendet sich wieder neu dem wörtlichen Sinn der altkirchlichen Hermeneutik zu und versucht diesem neue Gehalte abzugewinnen. Die vier (oder fünf) Dimensionen, im menschlichen Subjekt verankert, sind Dimensionen menschlicher Wahrnehmung. Nicht eine Intentionalität, die als unmittelbare in den Dingen verankert wird, wie in Antike und Mittelalter. Die Kernfrage, die sich für mich damit stellt: Wie kommen wir über diese Intentionalität des menschlichen Subjekts hinaus?

Wurden im Mittelalter den Dingen eine mehrfache Intentionalität zugestanden, die der „alte“ vierfache Schriftsinn zu erheben suchte, so hat sich die reformatorische Exegese mit ihrer Wendung zum historischen Schriftsinn diese Intentionalität der Dinge methodisch ignoriert und das Subjekt zur Res Agens umgeschafft. Dennoch bleibt im nachhaltigen Gebrauch des Begriffs des Sub-Jectum eine Erinnerung daran, dass dieses Agens per Definitionem nicht Auctor sein kann, sondern der Aktion des Wortes subjiziert.

Und so entsteht die für mich entscheidende Frage: Wie geht mich das Wort, mit den von ihm bezeugten Dingen an? Was löst es in den Empfängern des Wortes aus? Welche Dimensionen trägt es an die Subjekte heran? Dazu gehören ebenso die Dimensionen von Glaube, Liebe und Hoffnung, wie jene - neueren - von Existenz, Gemeinschaft und Kreativität; wobei die Dimension des Glaubens nicht im Existenzbezug alleine aufgeht, sondern Momente eines Diskurs überschreitenden Transzendenzbezugs in sich trägt; und für die Moderne grundsätzlich Wahrheit historisch vermittelt ist, allerdings - so haben wir bei Gadamer gelernt - nicht allein über den garstigen Graben hinweg springend, sondern durchaus auch in der Verschmelzung menschlicher Erfahrungen über die Zeitsprünge hinweg. Dann können kabbalistische Spekulationen einbezogen werden, wenn sie für die Verständigung nützlich sind; für den Hebräerbrief vor allem die im Kanon begründete Merkabah-Mystik, für andere Texte die Apokalyptik, aber auch neuere, mystagogische (zum Beispiel tiefenpsychologische) Auslegungstraditionen, welche die Dimensionen von "Glaube, Hoffnung und Liebe" eröffnen.

Ich glaube, dass - durch die Filter von Historie und emanzipierter Moderne hindurch - der fünfte, kreative Schriftsinn es durchaus ermöglicht, Dimensionen des antiken, mehrfachen Schriftsinnes wieder aufzunehmen. Die Vollkommenheit der Schrift kann, von ihrer rationalistischen Engführung in einem historisierenden Fundamentalismus gelöst, im Blick auf die Vielfalt der Gattungen neu aufgenommen werden. Unter dem Vorzeichen des Dritten Artikels ist Inspiration in 2. Timotheus 3, 16 transitiv zu verstehen und homiletisch aufzunehmen: Dann bewirkt Wort Gottes die Predigt des Wortes Gottes, und diese wiederum ist - wie man im Anschluss an das Zweite Helvetische Bekenntnis formulieren mag - das Wort Gottes, weil sie vom Geist der Schrift inspiriert ist.

So kommt das Wort der Schrift als Agens ihrem Auctor Gott nahe, indem es in unserem menschlichen Subjektum unter Aufnahme früher gedachter Anregungen neue Schöpfungen bewirkt: sprachlich, und doch wohl auch lebenspraktisch.

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